
Bis vor wenigen Jahren galt es noch als ein Tabu: Dass ein Staat die Europäische Union wieder verlässt. Vor 2009 war die Möglichkeit zum Austritt im europäischen Vertragswerk überhaupt nicht vorgesehen. Erst mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 kann „jeder Mitgliedstaat … im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten“ (Artikel 50).
Die Europäische Union, beziehungsweise ihrer Vorgängerorganisation, hatte allerdings schon lange zuvor zwei Abgänge der besonderen Art zu verzeichnen: Algerien und Grönland. Beide wurden als von europäischen Staaten – Frankreich und Dänemark – abhängige Gebiete Teil der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Mit der völligen oder teilweisen staatlichen Unabhängigkeit verließen sie sie. Trotz der fundamentalen Unterschiede zum Fall Großbritanniens könnten möglicherweise einzelne Aspekte dieser Abgänge auch für die am Montag begonnenen Verhandlungen zum Brexit von Bedeutung sein. Einen „harten“ Ausstieg vollzogen jedenfalls weder Algerien noch Grönland.
Algerien und die EWG
Die Kolonien Frankreichs und Belgiens waren in der Frühzeit der EWG nur assoziierte Gebiete. Da Algerien aber nicht französische Kolonie, sondern integraler Teil Frankreichs war, gehörte es bis 1962 auch zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Algerier aber waren – zumindest pro forma – nicht nur französische, sondern auch europäische Bürger.
Fünf Krisen, die die EU schon überlebt hat
Als Großbritannien 1963 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der sechs Gründerstaaten beitreten will, legt Frankreichs Präsident Charles de Gaulle sein Veto ein. Großbritannien sei weder politisch noch wirtschaftlich reif, argumentiert er. Erst sein Nachfolger Georges Pompidou bringt die Wende. Der Beitritt der Briten gelingt 1973 - zehn Jahre nach dem ersten Antrag.
Quelle: dpa
Von Mitte der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre schwächelt die Gemeinschaft wirtschaftlich und politisch. Von „Eurosklerose“ ist die Rede. Die Konkurrenz aus den USA und Japan macht dem europäischen Markt zu schaffen. Die Mitgliedsländer versuchen, ihre Märkte zu schützen und nationale Interessen durchzusetzen. Die Krise wird überwunden durch neuen Schwung nach den Beitritten von Spanien und Portugal und dem Plan eines gemeinsamen europäischen Binnenmarkts.
Es soll der Startschuss zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sein. Doch die Dänen sagen in einem Referendum Nein zum Vertrag von Maastricht und setzen das politische Europa 1992 unter Schock. Elf Monate vergehen, bis ein Kompromiss mit Sonderrechten ausgehandelt wird, dem die Dänen zustimmen.
Mehrere Mitglieder der vom Luxemburger Jacques Santer geführten EU-Kommission müssen sich einem Misstrauensvotum im Europäischen Parlament wegen möglicher Betrugsaffären stellen. Ein von „fünf Weisen“ erstellter „Bericht über Betrug, Missmanagement und Vetternwirtschaft“ besiegelt kurz darauf das Schicksal der Santer-Kommission. Das gesamte Kollegium tritt im März 1999 zurück.
Mehr Demokratie und Transparenz - darum geht es 2005 in dem mühsam ausgehandelten „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ der damals 25 EU-Staaten. Doch die Franzosen und die Niederländer lehnen die EU-Verfassung bei Volksabstimmungen ab. An ihre Stelle tritt letztlich 2009 der Vertrag von Lissabon, der ähnliche Ziele verfolgt.
Die Verträge von Évian, die 1962 die staatliche Unabhängigkeit Algeriens besiegelten, regelten auch den Austritt aus der EWG. Alle Bewohner Algeriens ohne eine dritte Staatsangehörigkeit durften drei Jahre lang abwarten, um sich für die algerische oder französische Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Auch wer sich entschied, Algerier zu sein, durfte nach Frankreich übersiedeln. Das galt natürlich pro forma auch für Franzosen in Algerien. Tatsächlich jedoch ergriffen fast alle der über eine Million „pieds noirs“, der ethnischen Franzosen, die oft seit Generationen in Algerien lebten, die Flucht, da sie ebenso wie algerische Kollaborateure Opfer von Massakern wurden. Umgekehrt allerdings setzte eine millionenfache Einwanderung von Algeriern in Frankreich ein. Erst 1973 erhöhte Frankreich angesichts wachsender Arbeitslosigkeit die Hürden – ähnlich wie Deutschland zur gleichen Zeit gegenüber den „Gastarbeitern“.
Algerien erhielt aber noch ein anderes, heute völlig vergessenes Privileg: Ihm wurde ökonomisch für zehn Jahre die Behandlung als EWG-Inland zugesichert. Das Land hatte als (damals noch) Nahrungsmittel- und Energieexporteur also bis 1972, was heute viele Entwicklungstheoretiker und Dritte-Welt-Politiker für ganz Afrika fordern: zollfreien Marktzugang nach Europa.
Algerien konnte aus zehn Jahren des freien Marktzugangs zur EWG allerdings keinen langfristigen Vorteil ziehen. Nach der Flucht der französischen Großgrundbesitzer sank die Produktivität der Landwirtschaft rapide. Das sozialistische und zentralistische Regime in Algier hatte ein Monopol für Vermarktung und Transport. Die Regierung konnte also letztlich die Abnahmepreise für Bauern kontrollieren. Die Landarbeiter wurden de facto zu Empfängern staatlicher Renten, gleichgültig, ob sie nun produktiv oder unproduktiv waren. Die algerische Landwirtschaft verkam endgültig, als 1972 nach Ende der Zollunion mit Europa auch noch die algerischen Großgrundbesitzer enteignet wurden.
Die zehnjährige Geschichte der Waren- und Personenfreizügigkeit zwischen Algerien und Europa ist bekanntlich keine Erfolgsgeschichte. Allein durch seine Bodenschätze kann Algerien die wirtschaftliche Unterentwicklung notdürftig wettmachen. Der niedrige Ölpreis trifft das Land derzeit schwer. Ein großer Teil der Bevölkerung leidet unter Wohnungsnot und schlechter Gesundheitsversorgung. Unter 30-Jährige machen die Hälfte der rund 40 Millionen Einwohner aus, jeder dritte von ihnen hat keine Arbeit.