Digitalisierung Künstliche Intelligenz: Warum Europa einen Booster braucht

Hand in Hand: Europa will führend in der Datenwirtschaft werden. Doch kann das gelingen, wenn jedes Land seine eigene KI-Strategie umsetzt?  Quelle: dpa

Die EU will Vorreiter in der Datenwirtschaft werden. Im Wettbewerb mit China und den USA ist der Datenschutz bisher eine Schwäche. Wie er zur Stärke werden kann, zeigt eine neue Studie.  

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Der Name erinnert an die Geschichte vom kleinen Wichtel, der Kindern abends den Schlaf bringt, doch hinter „Sandman“ steckt eines der wohl wichtigsten europäischen KI-Projekte im Kampf gegen die Corona-Pandemie: „Sandman.ICU“ heißt die Software, die Medizinern und Pflegern auf Intensivstationen (Intensive Care Unit, ICU) in Echtzeit mit möglichen Krankenverläufe und Therapieoptionen unterstützen soll.  

Für das Programm, das auf iPads läuft, werden Informationen von Covid-19-Patienten während der Intensivpflege aufgenommen: Körperliche Veränderungen, wichtige medizinische Ereignisse und verabreichte Medikamente. Pseudonymisiert werden diese Daten auf einem Server der Europäischen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (ESAIC) gespeichert und zur wissenschaftlichen Auswertung weitergegeben. Die in Sandman.ICU integrierte Künstliche Intelligenz (KI) greife auf diese Datenbank zu, mit Hilfe von maschinellem Lernen soll sie Ärzte und Pfleger in Sekundenschnelle weiterhelfen, heißt es vom Universitätsklinikum Frankfurt, das das Programm einsetzt

Um die Pandemie durch die Verbindung von Medizin und Technologie besser zu erforschen und zu bekämpfen, haben sich 19 Partner aus 13 europäischen Ländern zum sogenannten Envision-Projekt zusammengeschlossen. Von der EU wird es mit rund 4,87 Millionen Euro gefördert. Sandman.ICU ist Teil dieses Projekts, der Name ist dabei angelehnt an die seit 2018 laufende Sandman-Studie zur besseren Versorgung von Intensivpatienten (SAnDMan: Sedierung, Analgesie und Delirium Management).

Europas braucht mehr Datenpools

Wie bei Sandman.ICU werden auf europäischer Ebene bisher noch viel zu selten Datenpools mit qualitativ hochwertigem Anspruch zusammengeführt – ein Grund, weshalb die Europäische Union (EU) im Wettbewerb um die Künstlicher Intelligenz mit China und den USA zu langsam vorankommt, heißt es in einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), die am Dienstag  vorgestellt wird und der Wirtschaftswoche bereits vorliegt. Und auf einem Digitalevent am 27. Januar diskutiert die WirtschaftsWoche mit prominenten Gästen.

Europa müsse seine nationalen Strategien besser koordinieren, kritisieren die Autoren Olaf Groth, Professor für Weltwirtschaft, Strategie und Innovation an der Hult International Business School sowie Vorstandschef der Beratungsfirma Cambrian.ai, und Tobias Straube Leiter von Cambrian.ai,  die Europas KI-Pläne mit den globalen Entwicklungen abgeglichen haben. Sie warnen: Gelinge diese bessere Koordinierung nicht, könnten die großen Unterschiede der nationalen Innovationsökosysteme „den wirtschaftlichen Zusammenhalt Europas“ riskieren und „die politische Stabilität gefährden“.  

Weltweit haben 50 Länder KI-Strategien 

Weltweit 50 Länder haben bisher eine nationale KI-Strategie entwickelt, die Obama-Administration machte 2016 in den USA den Aufschlag. Mehr als 20 EU-Mitgliedstaaten sind unter den 50 Ländern, Finnland machte 2017 den Auftakt, Deutschland verabschiedete im November 2018 seine KI-Strategie, im Dezember 2020 wurde sie aktualisiert. Die Bundesregierung will „KI made in Germany“ damit zum „weltweit anerkannten Gütesiegel“ machen.  

Als „Dachstrategie“ sattelt sie jetzt noch die Datenstrategie drauf, deren Eckpunkte bereits im November 2019 vorgestellt worden waren und die am Mittwoch im Kabinett verabschiedet wird. Eingebettet ist die nationale Datenstrategie in die EU-Datenstrategie, mit der Europa zum „Vorreiter in der Datenwirtschaft“ werden soll – wie aber soll das funktionieren, wenn der Umgang mit Daten in Deutschland und Europa so restriktiv gehandhabt wird?

Datenschutz als Stärke oder Schwäche?

Genau das, der Schutz personenbezogener Daten und der Menschenrechte, könne Europas Stärke in der „internationale KI-Arena“ sein, heißt es in der KAS-Studie – aber eben auch die große Schwäche: Denn im Vergleich mit der Daten-Diktatur Chinas oder mit der Plattformwirtschaft in den USA sind Daten eben in deutlich geringerem Umfang verfügbar für Forschung und Entwicklung.    

Die „europäischen Werte zu bewahren“ und gleichzeitig „große und qualitativ hochwertige Datenpools zu ermöglichen“, sei deshalb Europas Herausforderung, mahnen Groth und Straube. Um sie anzugehen, würden mehr KI-Expertinnen und Supercomputer gebraucht, weniger dagegen die Abhängigkeit von ausländischen Halbleiterherstellern.  

„Brain Drain“: Nur die Hälfte der KI-Forscher bleibt in Europa

Doch so klar die Erkenntnis, so schwer ist die Umsetzung. Beispiel „Brain Drain“: Obwohl sich alle europäischen Länder auf KI-Fachkräfte in ihren Strategien fokussieren, kommen sie bisher kaum gegen die Anziehungskraft der USA an. Von allen KI-Forscherinnen und derzeitigen Studenten im Fachbereich, die ihren ersten akademischen Grad in Europa erworben haben, seien gegenwärtig weniger als die Hälfte (46 Prozent) überhaupt noch innerhalb der EU tätig, heißt es in der Studie – und die andere Hälfte? Bringt mit ihrer Kompetenz und Expertise die Forschung und Anwendung im Ausland voran.

Allein ein Viertel des abgewanderten Talents arbeite und forsche dabei in den USA – unter dem neuen Präsident Joe Biden könnte diese starke Anziehungskraft Amerikas, sowohl im Bereich der akademischen Forschung wie auch der Privatwirtschaft, womöglich noch zunehmen. Zwar versucht die Bundesregierung von den 100 geplanten neuen KI-Professuren 30 über die Alexander-von-Humboldt-Stiftung (AvH) aus dem Ausland zurück nach Deutschland zu locken – bisher allerdings mit mäßigem Erfolg: Erst zwei AvH-Professoren haben bisher an einer deutschen Uni ihre Forschung aufgenommen.

Umso wichtiger: Netzwerke und virtuelle Entsendungs- und Austauschprogramme zu schaffen, damit Forscherinnen und Forscher „auch in Teilzeit“ Expertise in die europäische Forschungslandschaft und Wirtschaft einbringen, schlagen Groth und Straube vor. So könnten die Talente in ihrer Wahlheimat bleiben, die europäische Wirtschaft würde aber vom verstetigten Rückfluss profitieren – wobei eben fraglich ist, wie viel der „exklusiven“ Erkenntnisse in solch einem Netzwerk weitergegeben werden dürften.

Europa im digitalen Durchbruch

Europa führt bei der Automatisierung

Besser als ein Informations-Rückfluss wäre freilich die Rückkehr der „Brains“, was attraktive Forschungs- und Arbeitsbedingungen in der europäischen Heimat voraussetzt. Dass die Industrie bereits Spitzenreiter in der Automatisierung ist, reicht allein nicht, bietet aber eine Basis: So führt Europa mit weit mehr als 75.000 installierten Robotereinheiten (Stand 2018), noch vor den USA mit rund 55.000 Einheiten.

Doch solange Unternehmen aus Sorge vor Wettbewerbsnachteilen keine Daten teilen, können aus den Silos in den automatisierten Fabriken keine großen Pools als Basis für Innovationen werden. Um eine neue Datenwirtschaft mit Datenmarktplätzen zu schaffen, seien Projekte wie die europäische Cloudinfrastruktur Gaia-X „ein neuer Goldstandard“, um die europäische Datensouveränität zu stärken und die Infrastruktur für einen „gemeinsamen europäischen Datenmarkt“ zu errichten, schreiben Groth und Straube.

Die Pandemie als KI-Beschleuniger

Dabei könne die Pandemie durchaus als Beschleuniger wirken. Etwa, wenn der Staat gerade auch im öffentlichen Beschaffungswesen auf fortschrittliche Technologien setze. Ein Vorhaben der Bundesregierung, die mit ihrem Konjunkturprogramm vom Juni 2020 ihre Mittel für KI von drei auf fünf Milliarden Euro bis 2025 erhöht hat. Auch, um die Nutzung von KI im Mittelstand stärker zu fördern.

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Mehr Mittel sollen für die Anwendung von KI aber auch in den Gesundheitssektor fließen, der Bereich, auf den sich alle europäischen KI-Strategien laut KAS-Studie am stärksten fokussieren, gefolgt von den Bereichen Transport und Energie, Landwirtschaft, öffentliche Verwaltung sowie Industrie und Fertigung. Bedingt durch die Pandemie werde der Druck auf Gesundheitssysteme weiter steigen, Künstliche Intelligenz werde deshalb dort künftig womöglich noch breiter und tiefer genutzt, erklären Groth und Straube.

Wie beim Projekt „Sandman.ICU“, das eines der Vorbilder sein könnte für weitere europäische Datenpools – nicht nur, um KI in der Medizin voranzubringen.

Mehr zum Thema: Europa möchte unabhängiger sein von Amazon, Microsoft und Google – und bringt sich mit der Daten-Allianz Gaia-X in Stellung.

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