Der Mann ist Vorstandschef von Europas drittgrößtem Energiekonzern EDF Aber als Jean-Bernard Lévy am vorvergangenen Donnerstag auf der Hauptversammlung des Konzerns in Paris vor seinen Aktionären steht, macht er sich ganz klein – und die Zukunft seines Konzerns abhängig von einem einzigen Projekt, irgendwo in der britischen Provinz.
„Ohne Hinkley Point“, sagt Lévy über zwei gleichnamige geplante Atomkraftwerke, „hätte das Unternehmen keinerlei Glaubwürdigkeit mehr, um Zugang zu neuen Märkten für Atomenergie zu erhalten.“ Oder anders gesagt: Scheitert der für 26,5 Milliarden Euro geplante Bau zweier Meiler in Somerset im Südwesten Englands, dann scheitert der Konzern.
So weit ist es also mit diesem einstigen Champion der französischen Industrie gekommen. Dabei wollte Lévy doch eigentlich Zuversicht verbreiten. Was über die mit dem Bau von Hinkley Point verbundenen Risiken und die hohe Schuldenlast von EDF kursiere, sagte er, das sei doch „recht widersprüchlich“. Und setzte ein gewinnendes Lächeln auf. Das Unternehmen sei solide, der einzige Versorger in Europa, der Jahr für Jahr zuverlässig Gewinne ausweise. Kein Wort über den Finanzchef, der im März ging. Kein Wort darüber, dass EDF auch ohne die für Hinkley Point nötigen 17,5 Milliarden Euro (den Rest zahlt der chinesische Partner CGN) bereits eine Schuldenlast von 37,4 Milliarden Euro drückt. Kein Wort darüber, dass durch kreative Buchhaltung weitere Minusmilliarden drohen und der Konzern in den nächsten Jahren zig Milliarden für die Renovierung älterer Kraftwerke oder deren Rückbau vorhalten muss.
EDF kämpft gegen den eigenen Abstieg
Denn all diese Worte hätten offengelegt, was Lévy zu verschweigen versuchte: Für EDF geht es nämlich längst nicht mehr darum, für den Bau des ersten neuen Atomkraftwerks in Europa seit der Reaktorkatastrophe von Fukushima zu kämpfen. EDF kämpft längst vor allem gegen den eigenen Abstieg. 2015 wies EDF nur noch ein Drittel – 1,2 Milliarden Euro – des Nettogewinns von 2014 aus. Der Konzern, der sich vor wenigen Jahren noch mit dem Ölkonzern Total um Platz eins im Aktienindex CAC 40 balgte, ist dort inzwischen nicht mehr gelistet. Und keiner hat einen Plan, wie sich die missliche Situation ändern ließe.
Wie im Ausland die Atommüll-Kosten gestemmt werden
Die Atomkommission der Bundesregierung hat sich auf einen Vorschlag verständigt, wie die Finanzierung der Atommüll-Altlasten gesichert werden kann. In praktisch keinem Land Europas gibt es dafür so wenige Vorschriften, was die Vorsorge für Abriss der Meiler und Lagerung des strahlenden Mülls betrifft. Zwar gelten die von den Unternehmen gebildeten rund 40 Milliarden Euro Rückstellungen im europäischen Vergleich als hoch. Doch sie sind allein unter Kontrolle der Firmen und zudem in Kraftwerken oder anderen Anlagen investiert.Andere Länder haben schon vor Jahren Strategien entwickelt, wie die zurückgestellten Mittel gesichert, flüssiggemacht und notfalls aufgestockt werden können.
Das Land hat die meisten Atomkraftwerke in Europa, die alle von der staatlich dominierten EDF betrieben werden. Der Konzern ist gesetzlich verpflichtet, für die Entsorgungskosten in einem zweckgebundenen Fonds zu sparen. Das Geld muss nach festgesetzten Kriterien vorsichtig angelegt werden, was von einer nationalen Kommission überwacht wird. Die Offenlegung geht über normale Auskunftspflichten von Firmen hinaus. EDF darf dabei nur mit einer Verzinsung des Kapitals kalkulieren, die sich an einer Reihe vom Staat vorgegebenen Parametern orientiert. Zuletzt setzte EDF 4,6 Prozent an, wofür der Konzern allerdings eine Ausnahmegenehmigung in Anspruch nehmen musste. Zum Vergleich: Die deutschen Versorger kalkulieren mit einer Verzinsung ihrer Rückstellungen in nahezu der gleichen Höhe.
Ein Fonds, der von der Regierung verwaltet wird, soll sowohl die Ausgaben für Abriss der Meiler als auch die langfristige Lagerung des Mülls finanzieren. In den Fonds eingezahlt wird eine Abgabe der AKW-Betreiber, die etwa zehn Prozent der Strom-Produktionskosten beträgt. Die genaue Höhe wird jedes Jahr neu festgelegt. Dazu kann ein Risikoaufschlag von bis zu zehn Prozent der Gesamtsumme verlangt werden, um unerwartete Kostensteigerungen bei der Müll-Entsorgung abzufangen. Das Geld wird nach festgelegten Kriterien überwiegend in Staatsanleihen angelegt. Je nachdem, wie hoch die Rendite des Fonds in einem Jahr ausfällt, werden die Gebühren für den Müll erhöht oder gesenkt. Die Betreiber können sich bis zu 75 Prozent des Geldes aus dem Fonds zurückleihen, allerdings nur mit ausreichenden Sicherheiten. Geht ein Betreiber Pleite, muss der Steuerzahler allerdings für ihn einspringen.
Auch hier soll ein unabhängiger Fonds sowohl die Abrisskosten als auch die Mülllagerung finanzieren. Alle drei Jahre legen die Betreiber Kostenschätzungen vor, nach denen sich dann die Einzahlungen in den Fonds richten. Dazu wird für jedes einzelne Kraftwerk eine unterschiedliche Gebühr erhoben. Die Mittel im Fonds bleiben auf die einzelnen Betreiber aufgeteilt, eine Gesamthaftung gibt es nicht. Investieren darf der Fonds nur in risikoarme schwedische Anleihen und Festgeldanlagen. Sollten die Summen nicht ausreichen, müssen die Betreiber nachschießen. Der Staat darf auch einen Risikoaufschlag erheben, um sich gegen Pleitegefahr eines Betreibers abzusichern, hat das aber bislang nicht getan.
Das Land unterscheidet zwischen einem AKW-Stilllegungs- und einem Entsorgungsfonds. Beide Fonds stehen unter staatlicher Kontrolle. Die Verwalter entscheiden über Höhe der Beiträge sowie über die Anlagepolitik. Zuletzt wurde eine Sonderzahlung als Risikoaufschlag beschlossen. Alle fünf Jahre werden die erwarteten Entsorgungskosten neu berechnet und die Jahresbeiträge der Versorger angepasst. Sollten die Fondsanteile eines Versorger für die Altlasten nicht ausreichen und dieser nicht zahlungsfähig sein, müssen andere Betreiber bis zu einer Belastungsgrenze mithaften. Danach muss der Steuerzahler einspringen.
Es wird in diesen Tagen viel über das wirtschaftliche Siechtum Frankreichs geredet. Die Arbeitsmarktreform? Kommt nicht voran. Die Verwaltung? In Stolz und Behäbigkeit gefangen wie seit Jahrzehnten. Das nationale Budget? Hoffnungslos aus der Balance geraten. Kaum irgendwo aber fokussiert sich die Malaise der Grande Nation so wie in ihrem größten Energiekonzern. Und durch nichts lässt sich dessen Krise besser veranschaulichen als durch jenes mittlerweile völlig verkorkste Atomprojekt in Großbritannien. Ein Musterbeispiel für die Kunst, einen Staatskonzern beinahe zu ruinieren.
Prestige zum hohen Preis
Vor allem Frankreichs Regierung, der 85 Prozent der Anteile an EDF gehören, will auf jeden Fall an dem Projekt festhalten.
Es geht darum, eine der wenigen noch existierenden Größen der französischen Industrie zu verteidigen und eine Technologie mit aller Macht hoch zu halten, in der man sich führend in der Welt glaubt. So ist es heute, so war es schon ganz zu Beginn dieses Projekts.
2008 beschloss die britische Regierung, ihre 35,2 Prozent an dem Energieversorger British Energy zu verkaufen. Mehrere europäische Konkurrenten meldeten Interesse an, darunter die deutschen Konzerne E.On und RWE sowie Iberdrola aus Spanien. Bald winkten sie jedoch ab. Die Briten schienen ihnen zu problematisch. Nur der damalige EDF-Chef Pierre Gadonneix bekundete Interesse. Im Juni 2008 bot der Franzose 15,1 Milliarden Euro für 100 Prozent an British Energy. Das Gebot lag um 40 Prozent über dem Börsenkurs vor dem Aktienhöhenflug im Zuge der Übernahmespekulationen. Weil das dem Management von British Energy aber noch nicht reichte, legte Gadonneix weitere 700 Millionen Euro drauf.
Damit EDF keinen zu großen Goodwill, also den Unterschied zwischen gezahltem und tatsächlichem Wert, in seine Bücher schreiben musste, kündigten die Franzosen umgehend den Bau zweier Druckwasserreaktoren der dritten Generation, sogenannte EPR, auf dem Gelände von British Energy an. Das sollte den Wert des britischen Versorgers in der Zukunft steigern.
2008 rechnete niemand mit den Auswirkungen der Reaktorkatastrophe drei Jahre später im japanischen Fukushima, die weltweit das Geschäft mit der Atomkraft schwieriger machen wird. Und auch einen Rückgang der Strompreise um 30 Prozent im Zug des Ölpreisverfalls erwartete niemand.
Stattdessen bediente sich der französische Staat an den Dividenden. Rund 20 Milliarden Euro hat EDF seit dem Börsengang Ende 2005 an die Staatskasse überwiesen – jährlich zwischen 55 und 60 Prozent seiner Gewinne. Die Strompreise gehören gleichzeitig zu den niedrigsten in Europa, das will der Wähler so.
Die Gewerkschaften dürfen jedes Jahr Einkommenserhöhungen von drei Prozent durchsetzen, obwohl der französische Rechnungshof diese Lohnpolitik kritisiert. Und als der französische Atomkonzern Areva über die mangelnde internationale Nachfrage nach seinen Kraftwerken ins Strudeln geriet, zwang die inzwischen sozialistische Regierung EDF 2015, dessen Kraftwerksbausparte Areva NP für 2,5 Milliarden Euro zu übernehmen. In Lévy, dem ehemaligen Chef des Medienkonzerns Vivendi und des Rüstungskonzerns Thales, fand die Regierung einen Manager, der ihre Pläne umzusetzen versprach.
Bis dahin geht diese sehr französische Industriepolitik irgendwie auf.
Im März dieses Jahres aber kündigt der Finanzchef, Thomas Piquemal – und begründet seine Demission mit dem Meilerprojekt in Großbritannien. Bis dahin haben lediglich die Gewerkschaften Alarm geschlagen. Aber schlagen die nicht ständig Alarm?
„Ich habe diese Entscheidung aus Verzweiflung getroffen“
Nun aber formuliert ein Manager Zweifel. „Ich habe diese Entscheidung aus Verzweiflung getroffen“, begründet Piquemal vor dem Wirtschaftsausschuss des französischen Parlaments.
„Ich kann keine Entscheidung gutheißen, die EDF eines Tages in die gleiche Lage bringen könnte wie Areva, dass nämlich wenige Monate vor der Zahlungsunfähigkeit eine Rekapitalisierung des Unternehmens nötig wird.“
Und dass sie nötig wird, daran lässt Piquemal, der mittlerweile als neuer Chef des weltweiten M&A-Geschäfts bei der Deutschen Bank eingestiegen ist, vor den Politikern keinen Zweifel: „Ende 2015 hatte EDF bereits 58 Prozent seiner Vermögenswerte in die EPR-Technologie investiert. Mit Hinkley Point könnte dieser Anteil auf 70 Prozent steigen. Aber wer würde schon 70 Prozent seines Vermögens in eine Technologie investieren, von der wir heute nicht einmal wissen, ob sie funktioniert?“
Der Finanzer spricht damit einen wunden Punkt an, der auch viele Energieexperten bedenklich stimmt. Denn: Bisher ist kein einziger EPR-Druckwasserreaktor am Netz. Im Gegenteil. Der Bau eines ähnlichen Modells im finnischen Olkiluoto hinkt inzwischen mehr als neun Jahre dem Zeitplan hinterher. Das ursprünglich von Areva für drei Milliarden Euro schlüsselfertig verkaufte Projekt wird nicht vor Ende 2018 fertiggestellt werden und bis dahin vermutlich das Dreifache kosten. Der zweite geplante EPR-Meiler, im normannischen Flamanville, entwickelt sich ähnlich: Das Projekt ist um sechs Jahre im Verzug und kostet bisher mit 10,5 Milliarden Euro ebenfalls dreimal so viel wie ursprünglich veranschlagt. Die Rechnung könnte sich noch einmal erhöhen, der zuletzt genannte Termin für den Netzanschluss im vierten Quartal 2018 erneut hinfällig werden: Im Reaktorbehälter wurden jüngst normwidrige Kohlenstoffkonzentrationen entdeckt, was die Sicherheit dieser ersten Barriere gegen ein Austreten von Radioaktivität beeinträchtigen könnte. Die endgültigen Testergebnisse sollen im November der Aufsichtsbehörde ASN übergeben werden. Möglich, dass sie den Rückbau des Behälters verlangt.
Kein Interesse an Kraftwerken
Zehn weitere dieser Kraftwerke wollten die Franzosen zwischen 2011 und 2016 weltweit verkaufen. Niemand wollte auch nur ein einziges haben. Und als Exfinanzchef Piquemal in den Monaten vor seinem Rücktritt versuchte, weltweit weitere Investoren für das Englandabenteuer zu finden, um das Risiko für EDF zu verringern, fand er: niemanden.
Unterscheidung von Produkt und Realisierung
EDF-Chef Lévy aber verkündet: Es gibt keinen Grund, an der Machbarkeit von Hinkley Point zu zweifeln.
„Dass es auf einer Baustelle Schwierigkeiten gibt, bedeutet nicht, dass die Technologie ein Problem hätte.“ Man müsse zwischen dem Produkt und seiner Realisierung unterscheiden. Die Verzögerungen in Flamanville sind seiner Darstellung nach zum Teil dem Umstand geschuldet, „dass wir zehn Jahre lang kein Atomkraftwerk gebaut haben. Wir haben an Sachkenntnis verloren.“ Und die soll bei Hinkley Point nun wieder zur Verfügung stehen?
Die britische Regierung hat für die ersten 35 Betriebsjahre einen Festkostenpreis von 92,50 Pfund pro Megawattstunde Strom zugesagt. Das ist das Doppelte des heutigen Preises. „Wenn sich der Bau um zwei oder drei Jahre verzögert, ist es mit der Rentabilität vorbei“, warnt Eric Bonnel, geschäftsführender Gesellschafter der Strategieberatung Square in Neuilly-sur-Seine bei Paris.
Warum das Festhalten um jeden Preis? „Das britische Projekt ist dazu verdammt, die Glaubwürdigkeit der EPR wieder herzustellen, nachdem dieser Reaktortyp durch die Baustellen von Flamanville und Finnland in Misskredit gebracht wurde“, sagt Patrice Geoffron, Direktor des geopolitischen Zentrums für Energie und Rohstoffe an der Universität Paris-Dauphine. „Die Regierung denkt bereits daran, wie sie diesen Auftrag für ihre PR einsetzen kann: Sie wird sich damit brüsten, die Atomindustrie im Land dauerhaft zu sichern, indem sie Exportmöglichkeiten findet“, sagt Strategieberater Bonnel.
Keine Arbeitsplätze für Frankreich
François Lévêque, Wirtschaftsprofessor an der französischen Elitehochschule für Ingenieure Mines Paris Tech, ergänzt das kurzfristig womöglich wichtigste Argument für Hinkley Point: „Selbst wenn die Kraftwerke in England gebaut werden, schaffen sie in Frankreich Arbeitsplätze.“ Von der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hat der amtierende Staatschef François Hollande abhängig gemacht, ob er im nächsten Jahr erneut kandidiert. Deshalb werden Präsident und Regierung wohl an dem Projekt festhalten, egal, wer nun wie oft warnt und kritisiert.
EDF hat nur eine Chance: Die Renaissance der Atomkraft
Der Staat wird sich bis zum Ende des Jahres in Höhe von drei Milliarden Euro an einer Kapitalerhöhung von insgesamt vier Milliarden Euro beteiligen und lässt sich seine Dividendenansprüche 2016 und 2017 in Form von Aktien auszahlen.
Ungewiss bleibt, ob das reicht, den Konzern krisenfest zu machen, wenn er gleichzeitig zu dem bereits voriges Jahr angekündigten Abbau von rund 4000 Arbeitsplätzen bis 2019 eine weitere Milliarde an Kosten spart und sich von nicht strategischen Beteiligungen in Höhe von zehn Milliarden Euro trennt. „Der Staat sollte das Risiko nicht zu gering schätzen, dass EDF durch dieses Projekt destabilisiert wird“, warnt Patrice Geoffron. „Die europäischen Staaten haben nicht mehr unbegrenzte Möglichkeiten, ihre nationalen Champions bei schwerwiegenden Problemen zu unterstützen.“
Die Ratingagentur Moody’s hat die Kreditwürdigkeit von EDF inzwischen um eine Stufe auf A2 mit negativem Ausblick gesenkt. Gründe für eine bessere Bewertung seinen „mittelfristig unwahrscheinlich“, konstatierte die Agentur. Sie könne allenfalls den Ausblick auf „stabil“ heben, falls EDF auf Hinkley Point verzichte.
Und auch Frankreichs Umweltministerin Ségolène Royal meldete vergangene Woche plötzlich Zweifel an: „Ich frage mich, ob wir damit weitermachen sollen. Die Summen, die hier anfallen sind kolossal“, sagte sie der „Financial Times“ Mit den Plänen für Hinkley Point sei EDF vielleicht übers Ziel hinausgeschossen. EDF-Chef Lévy hat derweil ein anderes Rezept: „Wir sollten mit der Panikmache aufhören.“