
An was denkt der Durchschnittsdeutsche beim Wort „Grenze“? Wenn er sich noch an den 9. November 1989 erinnern kann, dann wahrscheinlich an ebenjene wunderbare Nacht des Glücks, als die Berliner auf der Mauer tanzten und diese schändliche, tödliche Grenze sich auflöste. Es gibt wahrlich guten Grund dafür, dass man hierzulande mehr als anderswo glaubt, „eine Grenze sei nur dazu da, um sie zu überschreiten,“ wie Peter Sloterdijk neulich feststellte. Vermutlich ist es in Deutschland noch mehr als anderswo eine Reaktion auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts, dass wir es laut Sloterdijk vorziehen, „in einem surrealen Modus von Grenzvergessenheit " zu existieren.
Man muss nur einmal „ohne Grenzen“ bei google eingeben, um zu sehen, wie grenzenlos der Anti-Grenzen-Topos mittlerweile bemüht wird. Es gibt nicht nur Ärzte und Reporter „ohne Grenzen“, sondern mittlerweile Ingenieure, Manager und sogar – kein Witz – „Homöopathen ohne Grenzen“. Linke wie Ianis Varoufakis warnen ebenso vor „Zäunen und Grenzen als Zeichen der Schwäche“ wie Wirtschaftsverbände.





Überschritten oder am besten ganz abgeschafft werden sollen aber nicht nur politische Grenzen. Entgrenzung war und ist noch immer die Essenz des Zeitgeistes über alle wesentlichen Lebensbereiche hinweg. Keine Grenzen oder Begrenzungen mehr zu akzeptieren ist das Normal-Programm in Politik, Wirtschaft, Privatleben. Ein Vorbild dafür ist zum Beispiel die Triathlon-Weltmeisterin Chrissie Wellington. „Leben ohne Grenzen“ heißt die Autobiographie der gerade einmal 39-Jährigen. Begleitet hat sie in diesem grenzenlosen Leben, laut Klappentext, „der ständige Drang, sich selbst zu verbessern, ein unstillbarer Hunger auf neue Abenteuer … und das Mantra der Offenheit gegenüber allen Herausforderungen, die das Leben ihr stellt.“ Politische Karriere will sie übrigens auch noch machen. Wer ohne Grenzen lebt, will eben einfach alles, und zwar nicht wie unsere gläubigen Vorfahren im nächsten Leben, sondern in diesem.
Der wohl stärkste Motor der Grenzvergessenheit aber ist die moderne Wirtschaft. Man kann die vom Finanzsektor dominierte Wachstumswirtschaft mit ihrem aus dem reinen Nichts geschaffenen Geld als den institutionalisierten Versuch verstehen, die Grenzenlosigkeit des Himmelsreiches auf die Erde zu verlegen. Der Kapitalismus wäre demnach nicht nur vom religiösen Glauben der Akteure geprägt, wie Max Weber behauptet („Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, 1904/05). Er wäre selbst eine Art Religion. Das ist zumindest die Theorie des Soziologen Christoph Deutschmann. Dass Geld die Funktion von Gott eingenommen hat, ist schon die These Georg Simmels in seiner „Philosophie des Geldes“ (1900). Es sei schließlich das Medium, das unbegrenzte Autonomie zulässt und bewirkt.
Seit der Abschaffung des Gold-Standards des Dollars ist das Geld nun selbst völlig losgelöst von materiellen, irdischen Bindungen. Da erwerbswirtschaftliche Aktivitäten in Geld gemessen werden, ist die Versuchung unwiderstehlich geworden, jegliche Schranken der Dynamik und Expansion zu ignorieren. Für eine vom Finanzsektor dominierte Wirtschaft ist Wachstum etwas nicht nur unendlich mögliches, sondern auch notwendiges. Die totale Entgrenzung ist normal geworden.
Doch Grenzen zu vergessen, heißt nicht, dass man sie tatsächlich verschwinden lassen kann. Geld mag transzendent und unendlich sein. Doch die Dinge, die eine Volkswirtschaft produziert, sind es nicht. Die Menge der für Wirtschaftsprozesse zur Verfügung stehen Rohstoffe ist ebenso begrenzt wie die Tragfähigkeit der Natur für die Schäden, die ihr dadurch zugefügt werden.