Es war die erwartete Kampfansage: Am Donnerstag verkündete das politisch gesteuerte polnische Verfassungstribunal, dass es den Vorrang von EU-Recht ablehnt. Aus Brüssel kam prompt dezidierte Kritik an dem Urteil. Am heutigen Freitag legte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach und zeigte sich sehr besorgt über die Entwicklung bei Deutschlands östlichem Nachbarn, der sich zusehends von der Rechtsstaatlichkeit entfernt.
Die jüngste Provokation aus Warschau reiht sich ein in eine lange Serie von Auseinandersetzungen. Brüssel sollte Härte zeigen, schon um andere Mitgliedsstaaten davon abzuhalten, Grundwerte wie Recht und Freiheit auszuhöhlen. Immerhin hat die EU-Kommission ein starkes Mittel: Sie kann Polen den Geldhahn abdrehen.
Polen ist bisher der größte Nettoempfänger in der Europäischen Union. Vom EU-Beitritt des Landes 2004 bis zum Jahr 2020 sind insgesamt 127 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt nach Polen geflossen. Das hat die Wirtschaft angekurbelt und die Durchschnittseinkommen im Land auf 75 Prozent des EU-Niveaus steigen lassen. Länder wie Portugal und Griechenland hat Polen damit längst überholt. Trotz der Aufholbewegung wird Polen noch eine Weile Nettoempfänger bleiben, wahrscheinlich bis zum Ende des Jahrzehnts, schätzt Jaroslaw Kaczynski, Parteichef der regierenden PiS-Partei und mächtiger Mann hinter Ministerpräsident Mateusz Morawiecki.
Und genau diese Tatsache kann und sollte sich Brüssel zunutze machen. Nach dem Urteil dürfen die Milliarden nicht wie bisher fließen. Alleine bei den Mitteln aus dem Corona-Wiederaufbonds geht es um 36 Milliarden Euro, die Polen gerne nutzen will. Von der Leyen hatte die Entscheidung dazu bisher aufgeschoben. Nun kann sie sicher sein, dass eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten die Gelder nicht freigeben wird.
Der grüne Europa-Abgeordnete Daniel Freund hat bereits gefordert, noch mehr Subventionen zurückzubehalten. EU-Recht erlaubt dies für die Mehrzahl der EU-Fonds, wenn Überwachungs- und Kontrollmechanismen in einem Land gravierend Mängel aufweisen.
Polen, das zeigen die Zahlen, ist eben nicht Großbritannien, das seit seinem EU-Beitritt 1973 systematisch mehr in die EU-Kasse einzahlte, als es zurückbekam. Polen hat kein wirtschaftliches Interesse, aus der EU auszutreten - nicht nur wegen der Milliarden, auf die es bei einem Polexit verzichten müsste. Polens Bürger haben von der Arbeitnehmerfreizügigkeit seit dem EU-Beitritt 2004 profitiert. Und gleichzeitig macht die EU-Mitgliedschaft den Standort für ausländische Direktinvestitionen attraktiv.
Die EU ist bei Polen aller Altersklassen beliebt, auch das unterscheidet das Land von Großbritannien, wo die Jahrzehnte lange hämische Berichterstattung der Boulevardblätter bei der Bevölkerung verfangen hat. Brüssel wurde zu einem Symbol von bürokratischem Übereifer mit Tendenz zur Übergriffigkeit.
Die EU-Kommission will die jüngste Provokation aus Warschau genau prüfen, bevor sie versucht, die Regierung in Warschau zur Räson zu bringen. Einen strategischen Vorteil hat Brüssel in diesem Fall: Das Wissen um die strategischen Positionen. Es ist klar, dass Polen an einem EU-Austritt nicht gelegen sein kann.
Mehr zum Thema: Immer mehr deutsche Unternehmen flüchten ins Industrieparadies Polen – selbst die Anti-EU-Rhetorik schreckt sie nicht. Zu groß sind die Vorteile: Bewerbungen statt Bürgerproteste und Begeisterung statt Bürokratie.