
Mächtig gemenschelt hat es mal wieder, als die EU-Kommission am Dienstag in Brüssel ihre „Flüchtlings- und Migrationsstrategie“ vorstellte. „Europa kann dem Sterben im Mittelmeer nicht tatenlos zusehen“, erklärte der für Migration zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos. Die Mittel für Rettungseinsätze der Grenzschutzagentur sollen verdreifacht, die ankommenden Flüchtlinge nach einem zeitlich befristeten Quotensystem gerechter auf alle Mitgliedsstaaten verteilt werden.
Europa jedenfalls ist und bleibt offen für alle Menschen in Not, so die Botschaft. Und die EU zeigt einmal mehr, dass sie sich in erster Linie als Humanisten-Klub versteht, eine Bastion des Guten in der bösen Welt. Das ist nett. Und dennoch naiv.





Die Flüchtlingsstrategie ist gar keine Strategie, sondern ein loses Beschlusswerk zum Kurieren der Symptome. In wachsender Zahl fliehen die Menschen übers Mittelmeer in die vermeintlich heile Welt der EU – ohne annähernd zu wissen, was sie hier tatsächlich erwartet. Also nimmt man sie auf. Und schafft damit neue Probleme. Erstens spricht sich herum, dass die Flucht nach Europa meist irgendwie gelingt. Zweitens wird die Flut an Flüchtlingen dann nicht abreißen. Was schon deren Unterbringung und erst Recht die Integration praktisch unmöglich macht.
Die Folge sind Spannungen innerhalb Europas, wenn Zuwanderung die Gesellschaften der EU überfordert. Es wäre ja schön, wenn die Bürger so tolerant und hilfsbereit wären wie die Brüsseler EU-Elite. Sind sie aber nicht. Der Pöbel-Bürger wählt in zunehmendem Maße sogar Nationalisten wie Frankreichs Front National. Und Populismus befällt in Zeiten wie diesen gar etablierte politische Kräfte wie die konservative britische Innenministerin Theresa May. Sie sprach sich in einem Gastbeitrag in „The Times“ dafür aus, Boote mit Flüchtlingen aufs offene Meer zurückzuschicken.
Über das Mittelmeer nach Europa: Zahlen zu Flüchtlingen
Trotz der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer wagen viele Tausend Menschen die Flucht nach Europa. 219.000 Menschen flohen laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR 2014 über das Mittelmeer nach Europa; 2015 waren es bis zum 20. April 35.000.
3.500 Menschen kamen 2014 bei ihrer Flucht ums Leben oder werden vermisst; im laufenden Jahr sind es bis zum 20. April 1600.
170.100 Flüchtlinge erreichten 2014 über das Meer Italien (Januar bis März 2015: mehr als 10.100); weitere 43.500 kamen nach Griechenland, 3.500 nach Spanien, 570 nach Malta und 340 nach Zypern.
66.700 Syrer registrierte die EU-Grenzschutzagentur Frontex 2014 bei einem illegalen Grenzübertritt auf dem Seeweg, 34.300 Menschen kamen aus Eritrea, 12.700 aus Afghanistan und 9.800 aus Mali.
191.000 Flüchtlinge stellten 2014 in der EU einen Asylantrag (dabei wird nicht unterschieden, auf welchem Weg die Flüchtlinge nach Europa kamen). Das sind EU-weit 1,2 Asylbewerber pro tausend Einwohner.
...beantragten 2014 in der EU Asyl (2013: 50.000).
202.700 Asylbewerber wurden 2014 in Deutschland registriert (32 Prozent aller Bewerber), 81.200 in Schweden (13 Prozent) 64.600 in Italien (10 Prozent), 62.800 in Frankreich (10 Prozent) und 42.800 in Ungarn (7 Prozent).
Um 143 Prozent stieg die Zahl der Asylbewerber im Vergleich zu 2013 in Italien, um 126 Prozent in Ungarn, um 60 Prozent in Deutschland und um 50 Prozent in Schweden.
Mit 8,4 Bewerbern pro tausend Einwohner nahm Schweden 2014 im Verhältnis zur Bevölkerung die meisten Flüchtlinge auf. Es folgten Ungarn (4,3), Österreich (3,3), Malta (3,2), Dänemark (2,6) und Deutschland (2,5).
600.000 bis eine Million Menschen warten nach Schätzungen der EU-Kommission allein in Libyen, um in den nächsten Monaten die Überfahrt nach Italien oder Malta zu wagen.
Das geht natürlich nicht. Obwohl es in Brüssel einige mit dem zelebrierten Gutmenschentum übertreiben, dürfen Menschen in Not niemals mutwillig der Gefahr ausgesetzt werden – auch wenn sie selbst irrsinnige Risiken bereitwillig in Kauf genommen haben. Und doch sollte die EU die Flüchtlingsflut eher eindämmen, indem sie deren Ursachen bekämpft:
Erstens: Viele Afrikaner fliehen, um dem Mythos eines besseren Lebens in Europa zu folgen. Dass es für die meisten hierzulande keine Perspektiven gibt, könnte man besser kommunizieren, etwa über Info-Kampagnen in den Medien und bei Botschaften. Auch eine proaktivere Entwicklungspolitik, die auf Schaffung lokaler Arbeitsplätze zielt, wäre sinnvoll.
Zweitens: Libyen entwickelt sich zum gescheiterten Staat ohne Grenzen – auch, weil Truppen der NATO im Bürgerkrieg erst auf falsche Weise interveniert und das fragile Land zu früh sich selbst überlassen hat. Jetzt könnte das gespaltene und teils anarchisch regierte Libyen eine UN-Mission gebrauchen, damit dort Stabilität einkehrt. Solange das ganze Land ein offenes Tor zum Mittelmeer ist, werden die Flüchtlingsströme nicht abreißen.
Drittens: Die EU sollte sich mit den USA und auch Russland verstärkt um eine Begradigung des Syrien-Konflikts einsetzen. Ehe der Bürgerkrieg dort nicht beendet ist, werden auch die Flüchtlinge von dort nicht weniger werden. Beim Wiederaufbau der staatlichen Strukturen wird sich Europa einbringen müssen.
Viertens: EU-Mitgliedsstaaten sollten Frontex-Missionen und auch eigene Marineverbände mit robusteren Mandaten ausstatten, damit sie Schlepperboote aufreiben und zerstören können. Diplomatisch müsste abgesichert werden, dass europäische Boote vor Libyens Küste operieren dürfen – auch wenn sie die Flüchtlinge sicher nicht dorthin zurückbringen werden. Einen solchen Vorstoß wagt hat die EU-Kommission immerhin in ihrer „Strategie“, nun müssen aber noch die Mitgliedstaaten ins Boot geholt werden. Das dürfte schwierig werden.