
Der britische Premierminister David Cameron und die Staats- und Regierungschefs der EU haben in Brüssel ein Fragezeichen hinter das Gelingen der Verhandlungen über ein Reformpaket für Großbritannien gesetzt. Mit "gutem Willen und harter Arbeit" werde eine Einigung möglich sein, sagte Cameron am Donnerstag vor Beginn des EU-Gipfels.
"Es kommt aber darauf an, dass wir es richtig machen." Das sei wichtiger als ein schneller Abschluss. EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte, bei dem Treffen gehe es um "alles oder nichts". Frankreichs Präsident Francois Hollande warnte vor zu großen Zugeständnissen.
Die 28 Staats- und Regierungschefs der EU nahmen ihre Beratungen am Spätnachmittag auf. Diplomaten rechneten mit Gesprächen bis tief in die Nacht.
Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa
Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union waren nie einfach. Der konservative britische Premierminister David Cameron will bei einer Wiederwahl 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzen - und vorher das Verhältnis des Königreichs zu Brüssel neu verhandeln. Geprägt von tiefem Misstrauen gegenüber Europa setzte Großbritannien in der Vergangenheit wiederholt Sonderregeln durch - und steht traditionell mit einem Fuß außerhalb der EU.
Da Großbritannien zwar viel in den EU-Haushalt einzahlte, aber kaum von den milliardenschweren Agrarhilfen profitierte, forderte die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1979: „I want my money back!“ („Ich will mein Geld zurück!“) Die „Eiserne Lady“ setzte dann 1984 eine Rabatt-Regelung für ihr Land durch, nach der Großbritannien 66 Prozent seines Nettobeitrags an die EU zurückerhält. Der Rabatt besteht bis heute, obwohl er immer wieder den Unmut anderer EU-Länder erregt, da sie nun den britischen Anteil mittragen müssen. Doch abgeschafft werden kann die Regel nur, wenn London zustimmt.
Wer von Deutschland nach Frankreich, Österreich oder in die Niederlande reist, muss dafür seinen Pass nicht vorzeigen. Großbritannien-Urlauber sollten den Pass jedoch dabei haben: Die Briten haben sich nicht dem Schengen-Abkommen angeschlossen, das den EU-Bürgern Reisefreiheit von Italien bis Norwegen und von Portugal bis Polen garantiert.
Seit der EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 in Kraft getreten ist, kann Großbritannien wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkte die britische Regierung den Ausstieg aus 130 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag. Im Dezember 2014 stieg London dann bei rund 30 Regelungen wieder ein, darunter beim Europäischen Haftbefehl. Diese „Rosinenpickerei“ nervt im Rest der EU viele.
In der Verteidigungspolitik setzt Großbritannien auf die Nato. Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März für den Aufbau einer europäischen Armee warb, kam das „No“ aus London postwendend. „Verteidigung ist eine nationale, keine EU-Angelegenheit“, sagte ein Regierungssprecher. Obgleich Großbritannien Ende der 1990er Jahre den Widerstand gegen die Gründung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) aufgab, wacht es darüber, dass die Europäer hier nicht zu weit gehen. So hat London verhindert, dass es ein Militärhauptquartier in Brüssel gibt. EU-Einsätze wie etwa in Mali werden deshalb dezentral aus den Mitgliedstaaten geleitet.
Auch in der Euro-Krise ist die an ihrer Pfund-Währung festhaltende britische Insel ein gutes Stück weiter von der Kern-EU weggedriftet. Mit Sorge wurden in London die mühseligen Arbeiten zur Euro-Rettung beobachtet, zudem fürchtete die britische Regierung Folgen für den Finanzstandort London durch strengere Banken-Regulierung oder eine Finanztransaktionssteuer. Für Empörung in der EU sorgte, dass sich Großbritannien dem Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin nicht anschloss.
Mit den vereinbarten Reformen im Rücken will Cameron bei einem Referendum bei seinen Landsleuten für einen Verbleib Großbritanniens in der EU werben. Zuletzt war das Lager der EU-Befürworter im Vereinigten Königreich laut Umfragen zusammengeschrumpft, so dass die Gefahr eines Ausscheidens ("Brexit") zugenommen hat.
EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker zeigte sich optimistisch, dass es bei dem bis Freitag dauernden Gipfel zu einer Einigung kommt. "Die Sache ist noch nicht gelaufen, aber sie wird am Ende des Tages gelaufen sein", sagte Juncker. Es sei aber noch eine Reihe von Fragen zu klären. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von noch vielen offenen Fragen. Kritisch äußerte sich Hollande, auch wenn er zugleich seinen Willen bekundete, Großbritannien in der EU zu halten. "Aber kein Land hat ein Veto. Es steht die EU auf dem Spiel, nicht nur ein Land." Alle Mitglieder der Gemeinschaft müssten sich an die fundamentalen Prinzipien der EU halten, mahnte Hollande.
Der Sozialist bezog sich auf britische Forderungen, etwa Ausnahmen bei Sozialleistungen für EU-Ausländer und Einfluss auf Entscheidungen der Euro-Zone zu erhalten. Großbritannien gehört dem Währungsraum nicht an. Wenn einem Land Sonderrechte zugestanden würden, dann würden weitere EU-Staaten andere Sonderrechte fordern, sagte Hollande.
Nach einem Reuters vorliegenden Entwurf für die Abschlusserklärung der 28 Staats- und Regierungschefs ist unter anderem noch die Regulierung der Finanzmärkte umstritten. So sei zwar die Bank of England (BoE) zuständig für die Überwachung der Geldinstitute und Märkte im Vereinigten Königreich. Die BoE müsse aber die Anforderungen der "Gruppen-Aufsicht" berücksichtigen. Mit dieser Aufsicht ist die Europäische Zentralbank gemeint, welche die Institute in der Euro-Zone überwacht. Da diese Textpassage in Klammern gehalten ist, besteht über die Formulierung noch keine Einigkeit.
Für die östlichen EU-Länder war in den vergangenen Wochen die Forderung Großbritanniens nach Einschnitten für EU-Ausländer bei Sozialleistungen die härteste Nuss, weil aus Osteuropa besonders viele Arbeitnehmer auf die britischen Inseln gezogen sind. Die polnische Ministerpräsidentin Beata Szydlo sagte in Brüssel, sie wolle zwar eine Einigung mit der britischen Regierung, aber nicht um jeden Preis. Unklar ist noch, wie lange die sogenannte Notbremse gelten soll, mit der ein Mitgliedsland EU-Ausländer von Sozialleistungen ausschließen darf. Auch über mögliche Einschränkungen beim Transfer von Kindergeld in andere EU-Staaten gibt es Streit.
Die EU-feindliche Ukip-Partei aus Großbritannien warf Cameron vor, eine Einigung mit den EU-Partnern zu unterschreiben, die rechtlich nicht haltbar sein werde. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) könne alle Entscheidungen kippen, wenn sie nicht mit den aktuell gültigen EU-Verträgen überein stimmten, argumentierte Ukip-Chef Nigel Farage in Brüssel.