Die Europäische Union wird erst im kommenden Jahr über ihren neuen Finanzrahmen bis zum Jahr 2020 entscheiden. Die EU-Staats- und Regierungschefs beendeten am Freitag ihre Beratungen auf einem Sondergipfel in Brüssel ohne Einigung, wie mehrere Diplomaten erklärten. Die Differenzen zwischen den Nettozahler- und den Empfängerstaaten erwiesen sich als unüberbrückbar. Zuletzt hatte es in den Beratungen Kritik etwa von Großbritannien, Schweden, den Niederlanden und Deutschland an dem Kompromissentwurf von EU-Ratspräsident Herman van Rompuy gegeben. Dieser sah für den siebenjährigen Finanzrahmen rund 1008 Milliarden Euro vor.
"Es ist vorbei", sagte ein in die Gespräche involvierter EU-Vertreter zu den Beratungen in Brüssel. Die Regierungschefs arbeiteten an einer Erklärung, wann sie an den Verhandlungstisch zurückkehren wollten und was die Ursache für die Sackgasse sei. Am Freitagmorgen hatte es zunächst zahlreiche bilaterale Treffen der Regierungschefs gegeben. Unter anderem trafen der französische Präsident Francois Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel jeweils mit dem britischen Premierminister David Cameron zusammen. Merkel hatte bereits nach der Unterbrechung des Gipfels in der Nacht auf Freitag gesagt, es werde wohl ein zweites Treffen nötig werden. Auch Cameron und Österreichs Kanzler Werner Faymann hatten sich skeptisch gezeigt. Gut zwei Wochen vor der Verleihung des Friedensnobelpreises erreicht die Spaltung Europas damit einen neuen negativen Höhepunkt.
Anfang des Jahres werde soll ein Sondergipfel die Budgetfrage noch einmal debattierten. Diplomaten berichteten von „tiefsten Spaltungen“ zwischen den 27 Mitgliedstaaten. Die große Mehrheit von ihnen – vor allem aus dem Süden und Osten des Kontinents – stand hinter dem Vorschlag der EU-Kommission, der Ausgaben für den Siebes-Jahres-Zeitraum von 1,1 Billionen Euro vorsieht.
Nettozahlerländer wie Großbritannien, Deutschland oder die Niederlande wollten jedoch Kürzungen durchsetzen, die über den Kompromissvorschlag von Gipfelchef Herman Van Rompuy hinausgehen. Der Belgier hatte einen Rahmen von 1,01 Billionen Euro vorgeschlagen, das sind rund 80 Milliarden Euro weniger als die Kommission.
Überraschend kam das Scheitern des Gipfels nicht. Bereits in der Vorwoche blockierten die Staats- und Regierungschefs den Nachtragshaushalt für 2012. Das Pikante: Gestritten wird nicht in erster Linie ums Geld, wie man glauben könnte, sondern ums Prinzip. Berthold Busch, Senior Economist im Arbeitsbereich "Europäische Integration" beim Institut der deutschen Wirtschaft Köln, bescheinigte der EU-Kommission im Gespräch mit WirtschaftsWoche Online eine "Ausgabenentwicklung mit Augenmaß". Er erklärt: "Beim Finanzrahmen 2006 bis 2013 wollte die Kommission richtig in die Vollen greifen. Das ging daneben. Demgegenüber sind die aktuellen Forderungen relativ moderat."
Europa ist längst nicht mehr handlungsfähig
Das scheinen auch die Mitgliedsstaaten so zu sehen: Ihre Gegenvorschläge zum Budgetplan der EU-Kommission weichen nur minimal von dem Brüsseler Entwurf ab. Während die EU-Kommission einen Haushalt von 1,08 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung vorgelegt hatte, fordert Deutschland als Anführer der Nettozahler 1,00 Prozent und Großbritannien ein Einfrieren auf dem aktuellen Niveau – unabhängig vom Wirtschaftswachstum der Mitgliedstaaten.
Der Unterschied für Großbritannien ist bei allen drei Varianten denkbar gering, hat John Springford vom Centre for European Reform in London errechnet. Nach dem deutschen Vorschlag müssten die Briten im Jahr 500 Millionen Pfund mehr nach Brüssel überweisen als bisher, nach dem Kommissionsplan 690 Millionen Pfund zusätzlich. „Das sind 0,03 Prozent des Bruttoinlandsprodukt“, sagt Springford, „genauso viel wie England und Wales im Jahr für den Küstenschutz ausgeben.“
Wofür die EU Geld ausgeben will
Mit 490 Milliarden Euro ist die Förderung des nachhaltigen Wachstums der größte Posten in den Budgetvorschlägen der EU-Kommission für die Jahre 2014 bis 2020. Im Vergleich zur aktuellen Haushaltsperiode entspricht das einem Zuwachs von zwölf Prozent.
383 Milliarden Euro sollen für die "gemeinsame Agrarpolitik" locker gemacht werden, was eine Kürzung von sieben Prozent gegenüber der aktuellen Haushaltsperiode entspricht. Insbesondere eine produktivere und umweltschonendere Flächennutzung soll gefördert werden.
70 Milliarden Euro gehen an die Außenpolitik, 25 Prozent mehr als aktuell.
13 Prozent mehr Geld soll der Verwaltung zur Verfügung gestellt werden, insgesamt rund 63 Milliarden Euro.
Mit 19 Milliarden Euro stellt das Budget für das Bürgerrechte, die Freiheit, Sicherheit sowie Justiz den kleinsten Anteil dar. Im Vergleich zur aktuellen Haushaltsperiode soll sich das Budget damit allerdings mehr als verdoppeln: 58 Prozent mehr Geld soll dem Posten zugesprochen werden.
Nein, die Budgetverhandlungen sind nur vordergründig am Geld gescheitert, vielmehr dokumentieren sie ein großes Misstrauen der Einzelstaaten gegen den EU-Institutionen in Brüssel und den Wunsch nach Rückbesinnung auf die Nationalstaaten. Vielen Ländern, nicht nur Großbritannien, ist die Staatengemeinschaft keinen Penny wert. Jeder versucht, so viel wie möglich aus dem Gemeinschaftsbund herauszuziehen und eigene Interessen und Lobbygruppen zu bedienen. Deutschland muss die Autoindustrie bedienen, Frankreich seine Landwirte, Großbritannien die Finanzindustrie – und nebenbei die europa-feindliche Wählerschaft zwischen Dover und Manchester.
Schäubles Vorstöße sind realititätsferner denn je
Angesichts des Scheiterns des Sondergipfels wirken die Wünsche von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der von einer Vertiefung des Kontinents träumt, gar von den „Vereinigten Staaten von Europa“ („Wir müssen in wichtigen Politikbereichen mehr Kompetenzen nach Brüssel verlagern“), realitätsferner denn je. Europa braucht derzeit kein Mehr an Integration, das entspricht weder dem Wunsch der Bürger, noch dem der Mitgliedsländer. Die Europäische Union und auch die Eurozone müssen vielmehr endlich mal wieder beweisen, dass sie handlungsfähig sind. Nicht nur beim Budget-Streit, auch bei der Griechenland-Rettung ist das derzeit nicht der Fall.
Das liegt nicht nur an Nationalstaaten, sondern auch an der EU-Kommission, die weitgehend resistent gegen Kritik durch Brüssel schwebt und in den vergangenen Wochen und Monaten nicht einmal öffentlichkeitswirksam erklärte, ob die Institutionen wirklich eine Billion Euro für die kommenden sieben Jahre braucht. Muss die EU seine Landwirte subventionieren, Autobahn-Erneuerungen fördern und in Forschung zu investieren? Was sind Aufgaben des Nationalstaats, was sind sinnvolle Ergänzungen durch Brüssel? – Brüssel liefert dazu keine Antworten, Ökonomen schon.
Mehr für Bauern, weniger für die Forschung?
„In der Ökonomie hat das Subsidiaritätsprinzip einen hohen Stellenwert. Demnach sollte eher auf nationaler und regionaler Ebene Politik gemacht werden. Die Europäische Union sollte nur dann handeln, wenn es einen europäischen Mehrwert gibt“, sagt IW-Köln-Experte Busch. "Ich finde etwa, dass die EU Autobahnen und andere Infrastrukturnetze, die grenzüberschreitend sind, fördern sollte. In der Agrarpolitik oder der Kohäsionspolitik könnte hingegen meiner Meinung nach manches auch national erledigt werden."
Brüssel sieht das naturgemäß anders. Gut 380 Milliarden Euro will die Europäische Union zwischen 2014 und 2020 für die "Gemeinsame Agrarpolitik" ausgeben. Mit dem Geld soll die Landwirtschaft produktiver und grüner werden. Bauern werden dazu angehalten, "Flächennutzung im Umweltinteresse" zu betreiben, Pufferstreifen und Aufforstungsflächen anzulegen. Zweite Säule der Agrarpolitik ist es, die Lebensqualität in ländlichen Gebieten zu fördern und wirtschaftliche Unterschiede im Vergleich mit Städten und Metropolen auszugleichen. In den kommenden sieben Jahren sollen knapp 40 Prozent der Gesamtausgaben in die Landwirtschaft fließen, obwohl dieser Sektor nur noch 1,5 Prozent zum Bruttonationalprodukt der EU beiträgt. „Wir laufen Gefahr, dass wir im Jahr 2020 mit einer Haushaltsstruktur vom Beginn der Neunzigerjahre ankommen“, sagt der Vorsitzende des Haushaltsausschusses des Europäischen Parlaments, der konservative Franzose Alain Lamassoure. „Der Haushalt könnte zum historischen Monument werden.“
Wer von der EU-Agrarpolitik profitiert – und wer nicht
Die Bundesrepublik gehört zu den neun EU-Mitgliedsstaaten, die einen größeren finanziellen Beitrag zur Agrarpolitik leistet, als sie an Rückflüsse für diese Politik erhalten. Für jeden Euro an Brüssel erhielt Berlin 2010 für die Agrarpolitik 0,62 Euro zurück.
Das Euro-Land ist der größte Leidtragende der EU-Agrarpolitik. Für jeden Euro, den die Nationalregierung in Brüssel an die Staatengemeinschaft zahlt, erhält sie nur 0,39 Euro zurück.
Das flächenmäßig größte Land Europas wies im Jahr 2010 einen ausgeglichenen Saldo aus. Für jeden Euro, der von Paris nach Brüssel floss, ging genau 1,00 Euro zurück. 2004 noch erhielt Frankreich 1,20 Euro zurück. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass es durch die Osterweiterung zu einer Umverteilung der Agrarausgaben hin zu den neuen Mitgliedsstaaten gekommen ist. „Dies sollte nicht ohne Einfluss auf die französischen Verhandlungsposition in Bezug auf die Agrarausgaben bleiben“, schreibt Berthold Busch vom IW Köln.
Die „grüne Insel“ profitiert kräftig von der Agrarpolitik der Europäischen Union. Für jeden Euro an Brüssel erhielt Irland 2010 für die Förderung der heimischen Landwirte 2,62 Euro zurück. Nur fünf osteuropäische Länder profitierten noch mehr von den Agrartöpfen.
Das baltische Land ist der größte Profiteur der Brüsseler Agrarpolitik. Für jeden Euro, den das Land für die Agrarpolitik der Europäischen Union zusteuert, fließen 4,38 Euro zurück.
Erstaunlich auch, dass EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy bei den Aufwendungen für Forschung sowie Energie- und Verkehrsprojekte rund 13 Milliarden Euro weniger ausgegeben werden. Dabei wäre es gerade hier wichtig, Europa fit für die Globalisierung zu machen. Schließlich sind insbesondere Länder in Südeuropa weit davon entfernt, eine zukunftsorientierte Wissensgesellschaft zu sein.
"Wir plädieren dafür, eher in den traditionellen Bereichen – also der Agrarpolitik und Regionalpolitik – zu sparen, aber nicht im Bereich der Forschung, Technologie und Infrastruktur", sagt auch Busch.
Streit um den Briten-Rabatt
Antiquiert ist auch der so genannte Briten-Rabatt. Der Inselstaat bekommt seit 1984 einen Rabatt auf seinen Beitrag, im Prinzip erhält das Land jedes Jahr 66 Prozent der Differenz zwischen seinen Zahlungen an den EU-Haushalt und seinen Rückflüssen daraus erstattet. Im vergangenen Jahr betrug die Summe 3,6 Milliarden Euro. Die ehemalige Regierungschefin Margaret Thatcher – die den Deal Anfang der 1980er Jahre aushandelte – wird noch heute auf der Insel für ihr Verhandlungsgeschick gefeiert. Ihr Spruch „I want my money back“ (auf deutsch: Ich will mein Geld zurück) hat Kultstatus
Inzwischen hat der Briten-Rabatt längst Nachahmer gefunden. Denn Deutschland, Niederlande, Österreich und Schweden zahlen nur 25 Prozent ihres eigentlichen Anteils an der Finanzierung des Britenrabatts. Eine Verhandlung ihres Rabatts infolge des Briten-Rabatts kommt für sie nicht in Frage.
Wie sich die EU finanziert
Der größte Teil der traditionellen Eigenmittel sind die Einnahmen aus Zöllen, die bei der Einfuhr von Erzeugnissen aus Nicht-EU-Staaten erhoben werden, sowie Zuckerabgaben. Das sind Abgaben, die sich aus der Gemeinsamen Marktorganisation für Zucker ergeben und von den Produzenten auf die Zucker- und Isoglukosequoten zu entrichten sind (123,4 Millionen Euro im Haushalt 2012). In den 1970er Jahren waren die traditionellen Eigenmittel neben den nationalen Beiträgen die Haupteinnahmequelle. Sie machten etwa 1974 mehr als 60 Prozent der Einnahmen aus. Im Haushaltsplan für das Jahr 2012 liegt der Anteil der traditionellen Eigenmittel an den gesamten Einnahmen nur noch bei 14,9 Prozent (19,294 Milliarden Euro).
Die Mehrwertsteuer-Eigenmittel beruhen auf einem einheitlichen Prozentsatz, der auf die harmonisierte MwSt-Bemessungsgrundlage jedes Mitgliedstaats angewandt wird. Sie betragen im aktuellen Jahr 14,498 Milliarden Euro. Die MwSt-Grundlage ist auf 50 Prozent des Bruttonationaleinkommens jedes Mitgliedstaats begrenzt. Mit dieser Kappung soll vermieden werden, dass die weniger wohlhabenden Mitgliedstaaten, in denen der Verbrauch und somit die Mehrwertsteuer einen verhältnismäßig höheren Anteil am Nationaleinkommen ausmachen, einen Betrag abführen müssen, der nicht in Relation zu ihrer Beitragskapazität steht.
Die BNE-Eigenmittel basieren auf einem einheitlichen Prozentsatz, der auf das Bruttonationaleinkommen (BNE) jedes Mitgliedstaats angewandt wird. Mit ihnen werden die Haushaltseinnahmen und ‑ausgaben ausgeglichen, das heißt es wird der Teil der Ausgaben finanziert, der von anderen Einnahmequellen nicht abgedeckt ist. Diese eigentlich als Ergänzung gedachte Einnahme stellt heute mit 93,718 Milliarden Euro die wichtigste Einnahmequelle dar.
In den Haushalt fließen auch sonstige Einnahmen, darunter fallen Steuern, die auf die Gehälter der EU-Bediensteten erhoben werden, Beiträge von Drittländern zu bestimmten EU-Programmen sowie Bußgelder von Unternehmen, die gegen das Wettbewerbsrecht oder andere Rechtsvorschriften verstoßen haben. Dadurch sollen im laufenden Jahr 1,575 Milliarden Euro in die Kassen kommen.
Einige Länder haben kritisiert, dass ihr eigener Beitrag zum EU-Haushalt zu hoch ist und die einzelnen Mitgliedstaaten ungleich belastet werden. Zur Korrektur dieser Ungleichgewichte wurden unter anderem folgende Korrekturmechanismen eingeführt: Großbritannien werden zwei Drittel seines Nettobeitrags (Differenz zwischen den Zahlungen und Rückflüssen) erstattet. Die finanzielle Belastung aufgrund des Briten-Rabatts wird proportional zum Anteil der einzelnen Mitgliedstaaten am BNE der EU auf die übrigen Mitgliedstaaten aufgeteilt. Seit 2002 jedoch ist dieser Betrag für Deutschland, die Niederlande, Österreich und Schweden, die ihren Beitrag zum EU-Haushalt für zu hoch hielten, auf 25 Prozent ihres eigentlichen Pflichtanteils begrenzt.
Darüber hinaus gibt es weitere Ausnahmen: Schweden und die Niederlande werden Pauschalbeträge gezahlt, beide Länder haben – wie Österreich und Deutschland auch – zudem reduzierte Mehrwertsteuer-Abrufsätze vereinbart.
Die Europäische Union hat 2010 nach eigenen Angaben 127,795 Milliarden Euro eingenommen. Für 2012 ist eine Steigerung der Einnahme auf 129,088 Milliarden Euro geplant.
"Der Briten-Rabatt ist überholt. Er ist unter anderen Bedingungen geschlossen worden. Es gibt heute keine Grundlage mehr dafür", sagt Busch. Das Problem: Der Briten-Rabatt ist unbegrenzt gültig. Erst wenn London eine Reduzierung oder ein Ende des Sonderstatus akzeptiert, könnte neu verhandelt werden. Doch warum sollten die euro-kritischen Briten das tun?
Premierminister David Cameron wiederholte in der Nacht dann auch, dass er sein Veto einlegen werde, sollte der Briten-Rabatt in Frage gestellt werden. Eine Einigung am Freitag ist nicht in Sicht. Berthold Busch vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln schwant bereits Böses. „Sollten sich die Staats- und Regierungschef beim Gipfel nicht einigen, geht das Geschacher erst richtig los und jeder ringt um Ausnahmen und Rabatte." (mit Material von Reuters)