EU-Gipfel Die zerstrittenen Staaten von Europa

Der EU-Sondergipfel kann sich nicht auf ein Budget für Brüssel einigen. Während Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble von einer Vertiefung Europas träumt, zeigt das Spitzentreffen: Die Staaten der Europäische Union driften immer weiter auseinander.

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Die größten Nettoempfänger der EU
Ein bulgarischer Landwirt hält eine Nationalflagge während Protesten in Sofia Quelle: dpa
Eine Frau mit einer Rumänischen Flagge Quelle: dapd
Blitze über Bratislava Quelle: dpa
Die Altstadt von Vilnius Quelle: AP
Blick aus dem Rathausturm in Prag Quelle: dpa
Die Projektion der portugiesischen auf einem historischen Gebäude Quelle: REUTERS
Das ungarische Parlament Quelle: dpa

Die Europäische Union wird erst im kommenden Jahr über ihren neuen Finanzrahmen bis zum Jahr 2020 entscheiden. Die EU-Staats- und Regierungschefs beendeten am Freitag ihre Beratungen auf einem Sondergipfel in Brüssel ohne Einigung, wie mehrere Diplomaten erklärten. Die Differenzen zwischen den Nettozahler- und den Empfängerstaaten erwiesen sich als unüberbrückbar. Zuletzt hatte es in den Beratungen Kritik etwa von Großbritannien, Schweden, den Niederlanden und Deutschland an dem Kompromissentwurf von EU-Ratspräsident Herman van Rompuy gegeben. Dieser sah für den siebenjährigen Finanzrahmen rund 1008 Milliarden Euro vor.

"Es ist vorbei", sagte ein in die Gespräche involvierter EU-Vertreter zu den Beratungen in Brüssel. Die Regierungschefs arbeiteten an einer Erklärung, wann sie an den Verhandlungstisch zurückkehren wollten und was die Ursache für die Sackgasse sei. Am Freitagmorgen hatte es zunächst zahlreiche bilaterale Treffen der Regierungschefs gegeben. Unter anderem trafen der französische Präsident Francois Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel jeweils mit dem britischen Premierminister David Cameron zusammen. Merkel hatte bereits nach der Unterbrechung des Gipfels in der Nacht auf Freitag gesagt, es werde wohl ein zweites Treffen nötig werden. Auch Cameron und Österreichs Kanzler Werner Faymann hatten sich skeptisch gezeigt. Gut zwei Wochen vor der Verleihung des Friedensnobelpreises erreicht die Spaltung Europas damit einen neuen negativen Höhepunkt.

Anfang des Jahres werde soll ein Sondergipfel die Budgetfrage noch einmal debattierten. Diplomaten berichteten von „tiefsten Spaltungen“ zwischen den 27 Mitgliedstaaten. Die große Mehrheit von ihnen – vor allem aus dem Süden und Osten des Kontinents – stand hinter dem Vorschlag der EU-Kommission, der Ausgaben für den Siebes-Jahres-Zeitraum von 1,1 Billionen Euro vorsieht.

Die größten Netto-Zahler der EU
Touristen in Helsinki Quelle: dapd
Eine Windkraftanlage nahe Dänemark Quelle: dapd
Der Wiener Opernball Quelle: dpa
Da Atomium in Belgien Quelle: REUTERS
Eine Mitarbeiterin in der Schwedischen Botschaft in Minsk Quelle: REUTERS
Frau Antje Quelle: AP
Das Colosseum Quelle: REUTERS


Nettozahlerländer wie Großbritannien, Deutschland oder die Niederlande wollten jedoch Kürzungen durchsetzen, die über den Kompromissvorschlag von Gipfelchef Herman Van Rompuy hinausgehen. Der Belgier hatte einen Rahmen von 1,01 Billionen Euro vorgeschlagen, das sind rund 80 Milliarden Euro weniger als die Kommission.

Überraschend kam das Scheitern des Gipfels nicht. Bereits in der Vorwoche blockierten die Staats- und Regierungschefs den Nachtragshaushalt für 2012. Das Pikante: Gestritten wird nicht in erster Linie ums Geld, wie man glauben könnte, sondern ums Prinzip. Berthold Busch, Senior Economist im Arbeitsbereich "Europäische Integration" beim Institut der deutschen Wirtschaft Köln, bescheinigte der EU-Kommission im Gespräch mit WirtschaftsWoche Online eine "Ausgabenentwicklung mit Augenmaß". Er erklärt: "Beim Finanzrahmen 2006 bis 2013 wollte die Kommission richtig in die Vollen greifen. Das ging daneben. Demgegenüber sind die aktuellen Forderungen relativ moderat."

Europa ist längst nicht mehr handlungsfähig

Die zähsten Verhandlungen der EU
Zähe Verhandlungsmarathons sind in Brüssel beileibe kein Einzelfall, zumal in Krisenzeiten. An strapaziöse Überstunden haben sich die europäischen Staats- und Regierungschefs längst gewöhnt. Beim EU-Gipfel am Donnerstag müssen sie wohl auch auf den entspannten Genuss des Halbfinales der Fußball-EM zwischen Deutschland und Italien verzichten. Es wäre nicht die erste Selbstkasteiung. Quelle: dapd
Bereits die „Geburtsstunde der EU“ setzte in dieser Hinsicht Maßstäbe. Die Absegnung des Vertrags von Maastricht geriet 1992 zum zweitägigen Ringen um das Wesen und Werden der Europäischen Union. Damals kreißte der Berg und gebar: ein 320-seitiges Papiermonstrum, inklusive 17 Protokollen und 33 Erklärungen. Delegationsmitglieder erinnern sich mit Grauen an die schwer zu durchdringende Bleiwüste. Am 7. Februar 1992 unterzeichneten Hans-Dietrich Genscher (l) und Theo Waigel (r) den Vertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion der Europäischen Gemeinschaft in Maastricht.
Für Unmut bei den Beteiligten sorgte im Mai 1998 auch das „längste Mittagessen in der Geschichte der EU“. Damals zettelte Frankreich einen Streit um den künftigen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, der erst nach zehn Stunden beigelegt wurde. Über die schlechte Vorbereitung des Treffens hagelte es später Beschwerden. Am Ende wurde Willem Duisenberg zum ersten EZB-Chef gewählt. Quelle: ap
Eine weitere denkwürdige Episode trug sich im Februar 1999 in Berlin zu. Nach einwöchigen Vorverhandlungen ihrer Fachminister rangen die EU-Spitzen bis sechs Uhr morgens um die künftige Finanzplanung der Union und das Agrarbudget. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (l) versuchte noch, die Partner in nächtlichen Einzelgesprächen - dem sogenannten Beichtstuhlverfahren - auf Deutschlands Sparkurs einzuschwören. Sein Reformwunsch scheiterte aber am Widerstand Frankreichs. Quelle: Reuters
Legendär ist auch der fünftägige Gipfelpoker von Nizza. Dort ging es im Dezember 2000 um neue Abstimmungsverfahren, Stimmengewichtung, Parlamentssitze nach der EU-Osterweiterung - und „manchmal sogar aggressiv“ zu, wie ein Teilnehmer nach den Verhandlungen einräumte. Am Ende geriet der erhoffte große Wurf zum Minimalkompromiss. Quelle: ap
Zehn Jahre später beschlossen die EU-Finanzminister in einer weiteren Nachtsitzung einen 750 Milliarden Euro schweren Euro-Rettungsfonds unter Beteiligung des Internationalen Währungsfonds (IWF). Erst am frühen Morgen jenes 10. Mai 2010 stieg weißer Rauch auf. Anschließend traten die Minister völlig übermüdet vor die Presse, bevor sie ins Bett fielen. Quelle: dpa
Wer allerdings hoffte, dies sei die letzte Nachtschicht gewesen, der wurde im Oktober 2011 eines Besseren belehrt. Bis vier Uhr morgens feilschten Kanzlerin Angela Merkel und ihre europäischen Kollegen im Brüsseler Ratsgebäude über die Konditionen der Griechenland-Rettung. Das Gezerre endete mit einem 50-prozentigen Schuldenschnitt für Athen. Quelle: dapd


Das scheinen auch die Mitgliedsstaaten so zu sehen: Ihre Gegenvorschläge zum Budgetplan der EU-Kommission weichen nur minimal von dem Brüsseler Entwurf ab. Während die EU-Kommission einen Haushalt von 1,08 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung vorgelegt hatte, fordert Deutschland als Anführer der Nettozahler 1,00 Prozent und Großbritannien ein Einfrieren auf dem aktuellen Niveau – unabhängig vom Wirtschaftswachstum der Mitgliedstaaten.

Der Unterschied für Großbritannien ist bei allen drei Varianten denkbar gering, hat John Springford vom Centre for European Reform in London errechnet. Nach dem deutschen Vorschlag müssten die Briten im Jahr 500 Millionen Pfund mehr nach Brüssel überweisen als bisher, nach dem Kommissionsplan 690 Millionen Pfund zusätzlich. „Das sind 0,03 Prozent des Bruttoinlandsprodukt“, sagt Springford, „genauso viel wie England und Wales im Jahr für den Küstenschutz ausgeben.“

Wofür die EU Geld ausgeben will


Nein, die Budgetverhandlungen sind nur vordergründig am Geld gescheitert, vielmehr dokumentieren sie ein großes Misstrauen der Einzelstaaten gegen den EU-Institutionen in Brüssel und den Wunsch nach Rückbesinnung auf die Nationalstaaten. Vielen Ländern, nicht nur Großbritannien, ist die Staatengemeinschaft keinen Penny wert. Jeder versucht, so viel wie möglich aus dem Gemeinschaftsbund herauszuziehen und eigene Interessen und Lobbygruppen zu bedienen. Deutschland muss die Autoindustrie bedienen, Frankreich seine Landwirte, Großbritannien die Finanzindustrie – und nebenbei die europa-feindliche Wählerschaft zwischen Dover und Manchester.

Schäubles Vorstöße sind realititätsferner denn je

Angesichts des Scheiterns des Sondergipfels wirken die Wünsche von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der von einer Vertiefung des Kontinents träumt, gar von den „Vereinigten Staaten von Europa“ („Wir müssen in wichtigen Politikbereichen mehr Kompetenzen nach Brüssel verlagern“), realitätsferner denn je. Europa braucht derzeit kein Mehr an Integration, das entspricht weder dem Wunsch der Bürger, noch dem der Mitgliedsländer. Die Europäische Union und auch die Eurozone müssen vielmehr endlich mal wieder beweisen, dass sie handlungsfähig sind. Nicht nur beim Budget-Streit, auch bei der Griechenland-Rettung ist das derzeit nicht der Fall.

Das liegt nicht nur an Nationalstaaten, sondern auch an der EU-Kommission, die weitgehend resistent gegen Kritik durch Brüssel schwebt und in den vergangenen Wochen und Monaten nicht einmal öffentlichkeitswirksam erklärte, ob die Institutionen wirklich eine Billion Euro für die kommenden sieben Jahre braucht. Muss die EU seine Landwirte subventionieren, Autobahn-Erneuerungen fördern und in Forschung zu investieren? Was sind Aufgaben des Nationalstaats, was sind sinnvolle Ergänzungen durch Brüssel? – Brüssel liefert dazu keine Antworten, Ökonomen schon.

Mehr für Bauern, weniger für die Forschung?

Quelle: dpa

„In der Ökonomie hat das Subsidiaritätsprinzip einen hohen Stellenwert. Demnach sollte eher auf nationaler und regionaler Ebene Politik gemacht werden. Die Europäische Union sollte nur dann handeln, wenn es einen europäischen Mehrwert gibt“, sagt IW-Köln-Experte Busch. "Ich finde etwa, dass die EU Autobahnen und andere Infrastrukturnetze, die grenzüberschreitend sind, fördern sollte. In der Agrarpolitik oder der Kohäsionspolitik könnte hingegen meiner Meinung nach manches auch national erledigt werden."

37,4 Prozet für die Landwirtschaft, 1,6 Prozent für die Bildung: So soll das EU-Budget aufgeteilt werden (für eine verfrößerte Ansicht bitte klicken).

Brüssel sieht das naturgemäß anders. Gut 380 Milliarden Euro will die Europäische Union zwischen 2014 und 2020 für die "Gemeinsame Agrarpolitik" ausgeben. Mit dem Geld soll die Landwirtschaft produktiver und grüner werden. Bauern werden dazu angehalten, "Flächennutzung im Umweltinteresse" zu betreiben, Pufferstreifen und Aufforstungsflächen anzulegen. Zweite Säule der Agrarpolitik ist es, die Lebensqualität in ländlichen Gebieten zu fördern und wirtschaftliche Unterschiede im Vergleich mit Städten und Metropolen auszugleichen. In den kommenden sieben Jahren sollen knapp 40 Prozent der Gesamtausgaben in die Landwirtschaft fließen, obwohl dieser Sektor nur noch 1,5 Prozent zum Bruttonationalprodukt der EU beiträgt. „Wir laufen Gefahr, dass wir im Jahr 2020 mit einer Haushaltsstruktur vom Beginn der Neunzigerjahre ankommen“, sagt der Vorsitzende des Haushaltsausschusses des Europäischen Parlaments, der konservative Franzose Alain Lamassoure. „Der Haushalt könnte zum historischen Monument werden.“

Wer von der EU-Agrarpolitik profitiert – und wer nicht

Erstaunlich auch, dass EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy bei den Aufwendungen für Forschung sowie Energie- und Verkehrsprojekte rund 13 Milliarden Euro weniger ausgegeben werden. Dabei wäre es gerade hier wichtig, Europa fit für die Globalisierung zu machen. Schließlich sind insbesondere Länder in Südeuropa weit davon entfernt, eine zukunftsorientierte Wissensgesellschaft zu sein.

"Wir plädieren dafür, eher in den traditionellen Bereichen – also der Agrarpolitik und Regionalpolitik – zu sparen, aber nicht im Bereich der Forschung, Technologie und Infrastruktur", sagt auch Busch.

Streit um den Briten-Rabatt

Antiquiert ist auch der so genannte Briten-Rabatt. Der Inselstaat bekommt seit 1984 einen Rabatt auf seinen Beitrag, im Prinzip erhält das Land jedes Jahr 66 Prozent der Differenz zwischen seinen Zahlungen an den EU-Haushalt und seinen Rückflüssen daraus erstattet. Im vergangenen Jahr betrug die Summe 3,6 Milliarden Euro. Die ehemalige Regierungschefin Margaret Thatcher – die den Deal Anfang der 1980er Jahre aushandelte – wird noch heute auf der Insel für ihr Verhandlungsgeschick gefeiert. Ihr Spruch „I want my money back“ (auf deutsch: Ich will mein Geld zurück) hat Kultstatus

Inzwischen hat der Briten-Rabatt längst Nachahmer gefunden. Denn Deutschland, Niederlande, Österreich und Schweden zahlen nur 25 Prozent ihres eigentlichen Anteils an der Finanzierung des Britenrabatts. Eine Verhandlung ihres Rabatts infolge des Briten-Rabatts kommt für sie nicht in Frage.

Wie sich die EU finanziert

"Der Briten-Rabatt ist überholt. Er ist unter anderen Bedingungen geschlossen worden. Es gibt heute keine Grundlage mehr dafür", sagt Busch. Das Problem: Der Briten-Rabatt ist unbegrenzt gültig. Erst wenn London eine Reduzierung oder ein Ende des Sonderstatus akzeptiert, könnte neu verhandelt werden. Doch warum sollten die euro-kritischen Briten das tun?

Premierminister David Cameron wiederholte in der Nacht dann auch, dass er sein Veto einlegen werde, sollte der Briten-Rabatt in Frage gestellt werden. Eine Einigung am Freitag ist nicht in Sicht. Berthold Busch vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln schwant bereits Böses. „Sollten sich die Staats- und Regierungschef beim Gipfel nicht einigen, geht das Geschacher erst richtig los und jeder ringt um Ausnahmen und Rabatte." (mit Material von Reuters)

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