
Die Türkei hat den Europäern völlig überraschend einen neuen Pakt zum Entschärfen der zugespitzten Flüchtlingskrise vorgeschlagen. Für ein Entgegenkommen bei der Rücknahme von Flüchtlingen verlangte das EU-Beitrittskandidatenland am Montag beim Sondergipfel in Brüssel zusätzlich zu den bereits vereinbarten drei Milliarden Euro noch einmal die gleiche Summe. Ob die 28 EU-Staats- und Regierungschefs das akzeptieren, stand zunächst nicht fest.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wehrte sich zu Gipfelbeginn gegen Forderungen, die sogenannte Balkanroute für Flüchtlinge für geschlossen zu erklären - und widersprach damit einem Entwurf für die Abschlusserklärung. Merkel sagte: „Es kann nicht darum gehen, dass irgendetwas geschlossen wird.“
Die EU-Staaten stellten sich auf weitere politische Zugeständnisse an die Türkei ein, unter anderem auf ein Vorziehen von geplanten Reiseerleichterungen für türkische Staatsbürger. Allerdings pocht Ankara nach Angaben der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu nicht nur Visaerleichterungen, sondern auf Visafreiheit.
Reaktionen zu möglichen Grenzschließungen
Anton Börner, Präsident des Außenhandelsverband BGA, warnt im "Tagesspiegel" vor Grenzschließungen. Rund 70 Prozent des deutschen Außenhandels würden innerhalb Europas abgewickelt. "Vor diesem Hintergrund werden sich die Kosten alleine für die internationalen Straßentransporte um circa drei Milliarden Euro verteuern."
"Durch Staus und Wartezeiten, zusätzliche Bürokratie oder zum Beispiel die Umstellung von Just-in-time-Lieferung auf deutlich teurere Lagerhaltung können sich die Kosten für die deutsche Wirtschaft schnell auf zehn Milliarden Euro pro Jahr summieren", mahnt DIHK-Geschäftsführer Martin Wansleben.
Der Vize-Präsident des Europaparlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP), sagte der "Rheinischen Post": „Die Schließung der deutschen Grenzen wäre ein Debakel für die Flüchtlinge, für die Wirtschaft, aber auch für Millionen Pendler und Urlauber.“
"Verstärkte Kontrollen ist was anderes, aber eine komplette Schließung ist absolut illusorisch. Und man sollte den Leuten da keine Scheinlösungen anbieten“, sagte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley im Deutschlandfunk.
"Wenn die Grenzen geschlossen würden, ist Schengen gefährdet. Das hat ebenfalls große Auswirkungen auf Deutschland, auf Arbeitsplätze in Deutschland", sagte der nordrhein-westfälische CDU-Landesvorsitzende Armin Laschet.
Die neuen Vorschläge vom türkischen Ministerpräsident Ahmet Davutoglu brachte die gesamte Gipfelplanung durcheinander - das eintägige Treffen wurde bis in den Abend hinein verlängert. Davutoglu sagte, das Ziel des neuen Vorschlags sei, „Leben von Flüchtlingen zu retten und diejenigen zu entmutigen, die die verzweifelte Lage der Flüchtlingen missbrauchen und ausnutzen wollen“.
Im Gegenzug könnte die EU künftig alle illegal einreisenden Migranten wieder in die Türkei zurückschicken - also nicht nur Wirtschaftsflüchtlinge, sondern auch Syrer. Flüchtlingen soll so der Anreiz genommen werden, sich Schlepperbanden anzuvertrauen. Damit die Türkei mit der Last nicht alleine bleibt, will sie aber für jeden zurückgebrachten Migranten einen auf legalem Weg in die EU schicken. Diplomaten sprachen von der „Eins-zu-Eins“-Formel.
Über den Vorschlag Davutoglus berichteten am Rande des Gipfels EU-Parlamentschef Martin Schulz und Diplomaten. Das Europaparlament, sei bereit, einer Auszahlung weiterer Gelder zuzustimmen, sagte Schulz. „Drei Milliarden sind in der Debatte.“
Bei den Visaerleichterungen war ein Inkrafttreten im Juni im Gespräch. Sie sollten eigentlich frühestens im Oktober kommen. Die EU hatte der Türkei bereits im vergangenen November drei Milliarden Euro zur besseren Versorgung syrischer Flüchtlinge im Land zugesagt. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen leben heute 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei - und es werden monatlich mehr.
Über Vereinbarungen mit der Regierung in Ankara will die EU den unkontrollierten Zustrom von Flüchtlingen in Richtung Westeuropa eindämmen. Über die Türkei kommen derzeit die meisten Flüchtlinge nach Griechenland von dort aus über die Balkan-Staaten in Länder wie Deutschland. Wegen Grenzkontrollen, unter anderem in Mazedonien, passierten zuletzt jedoch weniger Menschen diesen Weg. In Griechenland strandeten Zehntausende Menschen.
Status und Schutz von Flüchtlingen in Deutschland
Immer mehr Flüchtlinge kommen nach Deutschland. Viele von ihnen dürfen nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl aus unterschiedlichen rechtlichen Gründen bleiben. Dabei reicht die Spannbreite vom Asylstatus bis zu einer befristen Duldung mit drohender Abschiebung.
Flüchtlinge, die in ihrem Heimatländern politisch verfolgt werden, haben laut Artikel 16 a des Grundgesetzes Anspruch auf Asyl. Hierfür gibt es allerdings zahlreiche Schranken, die Ablehnungsquote bei Asylanträgen liegt bei 98 Prozent. Schutz und Bleiberecht etwa wegen religiöser Verfolgung oder der sexuellen Orientierung wird auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt. Für die Praxis spielt die genaue rechtliche Grundlage allerdings keine Rolle: Anerkannte Asylberechtigte erhalten gleichermaßen eine Aufenthaltserlaubnis, die nach drei Jahren überprüft wird. Auch bei den staatlichen Unterstützungsleistungen, etwa Arbeitslosengeld II oder Kindergeld, gibt es keine Unterschiede.
Sogenannten subsidiären, also nachrangigen, Schutz erhalten Flüchtlinge, die zwar keinen Anspruch auf Asyl haben, in ihrer Heimat aber ernsthaft bedroht werden, etwa durch Bürgerkrieg oder Folter. Sie sind als „international Schutzberechtigte“ vor einer Abschiebung erst einmal sicher und erhalten eine Aufenthaltserlaubnis für zunächst ein Jahr. Die Erlaubnis wird verlängert, wenn sich die Situation im Heimatland nicht geändert hat.
Eine Duldung erhält, wer etwa nach einem gescheiterten Asylantrag zur Ausreise verpflichtet ist, aber vorerst nicht abgeschoben werden kann. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn kein Pass vorliegt oder es keine Flugverbindung in eine Bürgerkriegsregion gibt. Fällt dieses sogenannte Hindernis weg, droht dem Betroffenen akut die Abschiebung. Zu den Hindernissen für eine Abschiebung zählt unter anderem auch der Schutz von Ehe und Familie. Beispielweise kann ein Ausländer, der hier mit einer Deutschen ein Kind hat, nicht ohne weiteres abgeschoben werden.
Im Gegensatz zu Merkel verteidigten Länder an der Balkanroute die Formulierung, diese Route für geschlossen zu erklären. „Ich bin sehr dafür, mit klarer Sprache allen zu sagen: Wir werden alle Routen schließen, die Balkanroute auch“, sagte Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann, dessen Land Tageskontingente für Flüchtlinge eingeführt hat. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban sagte: „Die Grenzen müssen geschlossen werden.“ Niemand dürfe mehr ohne Erlaubnis und Registrierung durchkommen.
Offen blieb zunächst, ob sich einige EU-Staaten bereiterklären, der Türkei eine bestimmte Zahl an Flüchtlingen abzunehmen. Ankara poche auf eine solche Kontingentlösung, hieß es.
Belastet wurden die Verhandlungen zur Flüchtlingsfrage durch das Vorgehen der türkischen Justiz gegen die größte Oppositionszeitung „Zaman“. Sowohl türkische Oppositionspolitiker als auch Staats- und Regierungschefs warnten vor einem Verrat europäischer Prinzipien. „Es kann (...) nicht sein, dass wegen der Flüchtlingsfrage andere Werte, die für Europa wichtig sind, wie Pressefreiheit, einfach über Bord geworfen werden“, sagte Luxemburgs Premier Xavier Bettel.
Die türkische Oppositionspartei HDP übte konkret Kritik an Kanzlerin Merkel. Seit es die Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise gebe, schweige die deutsche Regierung zu Menschenrechtsverletzungen und zum Druck auf die Medien, sagte der Ko-Vorsitzende Selahattin Demirtas. Merkel hat nach Angaben einer Sprecherin die Pressefreiheit in der Türkei bei Davutoglu angesprochen.