EU-Gipfel Wie ein Kerneuropa funktionieren kann

Brexit, widerspenstige Polen und eine Grundsatzfrage der EU – darum geht es beim Brüsseler Gipfel. Die Idee einer EU der zwei Geschwindigkeiten ist wieder aktuell. Drei Beispiele, wie das funktionieren kann.

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Wenn einige wenige Staaten vorangehen, könnte das der EU neues Leben einhauchen. Quelle: dpa

Wenn es nach den Vorstellungen von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ginge, könnten die Europäer womöglich bis heute nicht frei durch Europa reisen. Das Schengen-Abkommen wurde vor über 30 Jahren zwischen Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten geschlossen. Nicht die Europäische Union hat also Schengen erfunden, sondern einzelne Mitgliedsstaaten, die im kleinen Kreis mehr Integration gewagt haben – zunächst ohne Brüssel.

Kommissionspräsident Juncker hatte kürzlich seine Pläne vorgestellt, wie sich die EU weiterentwickeln könne. Der Idee, dass einzelne Länder vorangehen, ähnlich wie bei Schengen, kann Juncker nicht viel abgewinnen. Vielmehr setzt er auf die etablierten Strukturen der EU. Aus Sicht von Josef Janning von der Denkfabrik „European Council on Foreign Relations” ist das der falsche Weg. Denn: „Die EU hat zuletzt bei der Flüchtlingskrise gezeigt, dass sie sich bei großen Fragen in der großen Gruppe nicht einigen kann.“

Beim EU-Gipfel in Brüssel haben die Staats- und Regierungschef nicht nur den Polen Donald Tusk erneut zum Präsidenten des Europäischen Rates gewählt – trotz Protest aus seinem eigenen Land. Auch der Brexit steht auf der Agenda. Und: Ein Europa der zwei oder mehreren Geschwindigkeiten ist das entscheidende Langfristthema. Die Diskussion darüber gibt es seit Jahren. Im Zuge der Flüchtlingskrise, Brexit-Entscheidung und dem Problem widerspenstiger Osteuropäer, die die Werte der EU hinterfragen, stellt sich die Frage nach einem Kerneuropa wieder verstärkt.

Grundsätzlich sind zwei Varianten denkbar, wie ein solches Europa funktionieren kann. Zum einen: Staaten, die kooperieren wollen, nutzen die sogenannte „verstärkte Zusammenarbeit“, die in den EU-Verträgen vorgesehen ist. Das Verfahren ist komplex. Mindestens neun Staaten müssen zusammenarbeiten, die Kommission prüft ein Vorhaben und erteilt gegebenenfalls Auflagen. Oder anders formuliert: Jean-Claude Juncker und seine Kommission hätten ein gewichtiges Wort mitzureden.

Zum anderen: Die Staaten kooperieren außerhalb der vorhandenen Verträge miteinander. Ähnlich wie bei Schengen einigen sich manche auf ein Projekt und bestimmen die Spielregeln. Wenn ein Projekt gut funktioniert und immer mehr Staaten mitmachen, kann es in die EU-Verträge überführt werden. So war es beim Schengen-Vertrag.

Die fünf Szenarien der EU-Kommission zur Zukunft Europas

Eine Vielzahl von Projekten ist denkbar. Beispiel Verteidigung: Kürzlich haben die Außen- und Verteidigungsminister der Europäischen Union ein militärisches Hauptquartier in Brüssel gegründet. Manche sehen darin den Beginn einer gemeinsamen Verteidigungspolitik in der EU. Doch den wirklich radikalen Schritt wagt bislang keiner: Armeen fusionieren und Länder im Zweifel gemeinsam verteidigen. Franzosen und Briten haben daran wenig Interesse, da sich beide noch immer als Weltmächte begreifen, die stolz auf ihre jeweiligen militärischen Fähigkeiten sind.

Eine gemeinsame Wirtschaftsregierung für ein Kerneuropa?

Wenn beispielsweise Deutschland einen Vorstoß für eine europäische Armee machen würde, wären wohl eher Länder wie Österreich, die Niederlande, die Benelux-Staaten, die skandinavischen Staaten oder manche in Osteuropa daran interessiert.

Zweites Beispiel – Grenzsicherung: Seit der Flüchtlingskrise gilt die Sicherung der Außengrenzen als eine der wichtigsten Aufgaben der EU. Und tatsächlich wurde die Grenzschutzagentur Frontex personell und finanziell verstärkt. Eine schlagkräftige europäische Grenzpolizei, die entlang der Außengrenzen patrouilliert, gibt es aber nicht. Im Gegenteil: Die Griechen verbitten sich eine solche Form der Einmischung.

Mit Italien könnte ein Art Außengrenzen-Schengen aber durchaus funktionieren, glaubt EU-Experten Janning. „Die Italiener werden sich nur darauf einlassen, wenn die Lasten geteilt werden.“ Bedeutet: Auch Deutsche und Österreicher müssten sich beispielsweise am Grenzschutz im Mittelmeer beteiligen. Und die Flüchtlinge, die dennoch nach Europa kommen, müssten nach einem Schlüssel unter den teilnehmenden Staaten verteilt werden. „Was in der EU mit 28 Staaten gescheitert ist, könnte in einem kleineren Kreis gelingen“, glaubt Janning.

Drittes Thema für ein mögliches Kerneuropa: eine Wirtschaftsregierung. Dass die EU eine gemeinsame Wirtschaftspolitik braucht, wussten die Staats- und Regierungschefs eigentlich schon als sie einst den Euro vor einem Vierteljahrhundert beschlossen. Die gemeinsame Währung kam, eine Wirtschaftsregierung jedoch nicht. Weder in der EU mit ihren derzeit 28 Mitgliedern (wenn die Briten austreten, werden es 27 sein), noch die Eurozone mit ihren 19 Staaten kann sich dazu durchringen, ihre Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik zu vergemeinschaften oder zumindest zu harmonisieren.

Doch wie wäre es, wenn sich beispielsweise Deutschland, Frankreich, die Niederlande, die Benelux-Staaten, die skandinavischen Länder und Österreich zusammenschlössen? „In einem solchen Kreis ist vieles denkbar – von einem gemeinsamen Budget, gemeinsamen Steuern bis hin zu gemeinsamen Anleihen“, sagt Janning. Ökonomen und Politikwissenschaftler sind sich sicher, dass sich die stärkeren nordeuropäischen Länder wohl auf gemeinsame Regeln verständigen könnten. Doch wie viele Südländer könnten hier mitmachen? „Der Norden will den Süden nördlicher machen“, erklärt Janning. Aber wie schnell ginge das? Bis sich etablierte Wirtschaftsstrukturen nachhaltig verändern, dürften Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte vergehen.

All diese Projekte – eine gemeinsame Verteidigungspolitik, gemeiner Grenzschutz oder eine gemeinsame Wirtschaftspolitik – werden nicht bei diesem EU-Gipfel beschlossen. Zumindest werden die Staats- und Regierungschefs die Idee eines Europas der zwei Geschwindigkeiten aber nicht ausschließen. Wenn die Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland vorbei sind, könnte es erste Initiativen geben – frühestens.

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