
London Wolfgang Schäuble (CDU) war für den Ernstfall vorbereitet. Schon um 5 Uhr morgens waren seine Experten im Finanzministerium und berieten über den Ausgang des britischen Referendums. Kurze Zeit später war auch der ihr Chef in seinem Büro. Schäuble sagte die eigentlich anstehenden Beratungen zur Erbschaftsteuer ab und telefonierte mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) und seinen europäischen Finanzminister-Kollegen.
Schon in den vergangenen Tagen hatte man sich im Finanzministerium für den Ernstfall gerüstet und das mögliche Vorgehen auf acht Seiten unter dem Titel „Deutsche Strategie bezüglich Brexit“ zusammengefasst. Das Papier, das dem Handelsblatt vorliegt, zeichnet vor, wie die Bundesregierung bei den nun beginnenden Verhandlungen agieren wird. Es ist der Notfallplan, der nun aus der Schublade geholt wurde.
Man werde Großbritannien in Abstimmung mit der EU „konstruktive Austrittsverhandlungen anbieten“, heißt es in dem Papier. Es würden allerdings „schwierige Scheidungsverhandlungen“, so die Erwartung von Schäubles Beamten. So gehe es um den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Investitionsbank (EIB), Ansprüche und Verpflichtungen aus den EU-Haushalten und auch die Frage, ob London noch im kommenden Jahr die EU-Präsidentschaft übernehmen könne. Nach dem EU-Recht habe man mindestens zwei Jahre Übergangszeit bis zum Austritt aus der Europäischen Union.
Die Bundesregierung hofft, durch diese Frist einen geordneten Prozess hinzubekommen. „Das schafft Zeit und Basis für Verhandlungen“, heißt es in dem Papier. „Danach sollte ein Assoziierungsstatus für UK angestrebt werden“, benennt die Bundesregierung ihr Ziel. Großbritannien würde ein „assoziiertes Partnerland“.
Doch zu weit will man London nicht entgegenkommen. Es dürfe „kein Automatismus beim Zugang zum EU-Binnenmarkt“ geben, heißt es in dem Papier. Wenn Großbritannien in Zukunft weitgehend die Vorzüge des Binnenmarktes nutzen könnte, ohne Mitglied der EU zu sein, könnte das Nachahmer finden. Man müsse „bei künftiger Neuregelung der Beziehungen falsche Anreize für andere Mitgliedstaaten vermeiden“, betonen Schäubles Beamte.





„Nachahmungstendenzen“ fürchtet die Bundesregierung in Frankreich, Österreich, Finnland, den Niederlanden und Ungarn. „Ausmaß und Umfang der Nachahmungseffekte werden maßgeblich vom Umgang mit Großbritannien abhängen“, heißt es. Im Klartext: Rosinenpicken in Bezug auf den Binnenmarkt kann man London nicht erlauben.
Der Brexit wird für Deutschland teuer
Und noch eine Sorge treibt Merkel und Schäuble um. Sie fürchten, dass die EU-Kommission, Frankreich und Italien „die Unsicherheit der Stunde für weitere Vergemeinschaftung nutzen“ könnte. Dem müsse Deutschland „proaktiv“ begegnen. Konkret halten Schäubles Experten es etwa für wahrscheinlich, dass der Ruf nach einer stärkeren gemeinsamen Haftung in der Eurozone lauter wird. Ein Beispiel wäre ein eigenen Budget für die Euro-Zone oder auch eine europäische Einlagensicherung für Banken.
Das dürfte nach dem Brexit allerdings gerade in den Geberländern in Nordeuropa auf noch größeren Widerstand treffen. Im Finanzministerium hält man zumindest die Rufe nach stärkere Vergemeinschaftung für die genau falsche Antwort. Denn das könnte euroskeptische Kräfte in anderen Ländern weiter stärken, nicht zuletzt auch in Deutschland selbst.
Zu einer Vertiefung der Eurozone ist man in Berlin nur bereit, wenn es zu einer Änderung der EU-Verträge kommt, um auch die Kontrolle über die Finanz- und Wirtschaftspolitik zu stärken. So fordern Schäubles Leute in dem Papier, dass künftig Haushalt von der EU zurückgewiesen werden können, wenn sie nicht den Defizitregeln entsprechen. Nach dem Brexit erwartet man in Berlin allerdings, dass es „keinesfalls größeres Einvernehmen bezüglich weiterer Integrationsschritte“ geben wird.





Für Deutschland wird der Austritt Großbritanniens zudem auch teuer. Schließlich geht damit absehbar der drittgrößte Nettozahler für den EU-Haushalt verloren. Dadurch könne sich der deutsche Beitrag um drei Milliarden Euro jährlich erhöhen, rechnen Schäubles Beamte vor. Hilfen für deutsche Unternehmen sind hingegen nach Einschätzung der Bundesregierung nicht notwendig. „Den Bedarf für eine Konjunkturunterstützung für die deutsche Wirtschaft im Fall eines konjunkturellen Einbruchs infolge Brexit für einzelne betroffene Unternehmen oder Branchen (beispielsweise Finanzhilfen, Garantien, Steuerentlastungen) sehen wir nicht“, schreiben Schäubles Beamte.