Pleitebedrohte Firmen in der Europäischen Union sollen künftig bessere Aussichten auf eine zweite Chance haben. Die EU-Kommission legte am Dienstag Vorschläge vor, um Unternehmen eine frühere Restrukturierung zu ermöglichen und die Regeln in der EU zu harmonisieren. Damit soll den Betrieben anders als bisher ein Neustart während des laufenden Betriebs möglich sein.
„Wir wollen gescheiterte Unternehmer dabei unterstützen, wieder schneller auf die Beine zu kommen“, sagte der zuständige EU-Kommissar Frans Timmermans. Nach Angaben der Kommission gehen in der EU jährlich rund 200.000 Firmen pleite. Etwa 1,7 Millionen Menschen verlieren dadurch pro Jahr ihre Arbeit. Derzeit spielen sich die meisten Unternehmenshavarien zwar jenseits der deutschen Grenzen ab - die Zahl der Insolvenzen verharrt in Deutschland auf dem niedrigsten Stand seit Jahren. Doch auch für Deutschland dürfte der EU-Vorstoß gravierenden Folgen haben, sobald er final verabschiedet wird.
So will Brüssel eine stärkere Unternehmensaufsicht etablieren, um finanzielle Schieflagen früher zu erkennen und Umstrukturierungen rechtzeitig einzuleiten. Eine Vielzahl an Firmenabwicklungen könne durch rechtzeitige Gegenmaßnahmen verhindert werden, hieß es. Dazu gehöre auch die Schaffung eines vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahrens, wie es etwa in England mit dem Scheme of Arrangement besteht. Dabei können Unternehmen ihre Schuldenlast bei einzelnen Gläubigern kappen, wenn mindestens 75 Prozent der Betroffenen zustimmen.
In Deutschland gibt es ein solches Verfahren bisher nicht, es müsste nach den EU-Plänen aber geschaffen werden. Kommt jetzt also ein deutsches „Scheme of Arrangement“? In den kommenden Monaten dürfte nun die Diskussion darüber beginnen, ob und wie ein solches Verfahren in Einklang zum deutschen Insolvenz- und Gesellschaftsrecht zu bringen ist. So monieren Kritiker bereits, dass professionelle Gläubigergruppen das Verfahren auch nutzen könnten, um werthaltige Sicherheiten zu kapern.
Für die WirtschaftsWoche haben Insolvenz- und Sanierungsexperten die EU-Ansätze bewertet und die möglichen Folgen skizziert:
Das sagen Experten zu den EU-Insolvenzrechts-Reformplänen
„Wir brauchen ein solches vorinsolvenzliches Verfahren zwingend und bald. Es gibt genug Unternehmen, die im Kern gesund sind, aber unter einer erdrückenden Schuldenlast ächzen. Gerade für solche Unternehmen fehlen in Deutschland bisher aber in vielen Fällen leider die geeigneten Sanierungswerkzeuge. Außergerichtliche Vergleiche bedürfen der Zustimmung aller betroffenen Gläubiger. Dieses Einstimmigkeitserfordernis ist eine kaum überwindbare Hürde. Zudem gibt es genug professionelle Störer, die die bisherige Situation nutzen, um ein in der Krise befindliches Unternehmen und dessen Gläubiger unter Druck zu setzen.“
Kolja von Bismarck, Vorsitzender des deutschen Berufsverbands der Restrukturierungsexperten TMA Deutschland und Partner bei Linklaters
„Unser Insolvenzrecht gilt bereits als eines der leistungsstärksten der Welt. Jetzt müssen wir aufpassen, dass der Bogen nicht überspannt wird und die Gläubiger und Arbeitnehmer am Ende die Verlierer der EU-Pläne werden. Der Begriff Sanierung darf in Zukunft nicht bedeuten, dass nur die Schulden gekappt werden und auf eine nachhaltige operative Restrukturierung verzichtet wird.“
Arndt Geiwitz, Insolvenzverwalter und Partner bei SGP Schneider Geiwitz
„Für deutsche Unternehmen stünde damit ein zusätzliches Instrument zur Verfügung, um sich außerhalb eines Insolvenzverfahrens zu sanieren. Beispielsweise ist für die Umsetzung von Sanierungsmaßnahmen künftig eine Abstimmung der Beteiligten nach dem Mehrheitsprinzip ausreichend. Bisher musste dafür ein Konsens zwischen allen Beteiligten gefunden werden. Eine vorinsolvenzliche Sanierung ist immer dann sinnvoll, wenn sich Unternehmen in finanziellen Schwierigkeiten befinden, aber über ein im Kern funktionierendes Geschäftsmodell verfügen. Eine frühzeitige Sanierung mit Hilfe eines Restrukturierungsplans kann einer Insolvenz vorbeugen und die Bestandsfähigkeit des Unternehmens nachhaltig wiederherstellen."
Alexandra Schluck-Amend, Partnerin bei CMS in Deutschland.
„Die Pläne der EU-Kommission reichen weiter, als viele in der Branche erwartet haben. Es geht nicht nur darum, ein neues Verfahren zu schaffen, das Großunternehmen dabei hilft, ihre Schuldenlast zu reduzieren. Vielmehr zielt der Vorstoß auch auf kleine und mittelständische Firmen. Ob ein vorinsolvenzliches Verfahren für diese Unternehmensgruppe das richtige Werkzeug ist, ist allerdings fraglich. Vielmehr steigt das Risiko, dass wir künftig wieder zwei Klassen von Fällen bekommen werden: Unternehmen, die eine Chance haben, nutzen das vorinsolvenzliche Verfahren. Die hoffnungslosen Fälle melden Insolvenz an. Damit würden wir ohne Grund alle Fortschritte über Bord werfen, die es in den vergangenen Jahren bei dem Versuch gab, eine echte Sanierungskultur zu etablieren. Die Insolvenz würde nicht mehr als Rettungsoption wahrgenommen werden, sondern als reines Abwicklungsverfahren.“
Robert Schiebe, Insolvenzverwalter und Gründer der Kanzlei Schiebe und Collegen.
„Die Idee, ein vorinsolvenzliches Verfahren zu schaffen, um Unternehmen in der Krise eine neue Sanierungsoption zu verschaffen und dabei das Stigma einer Insolvenz zu vermeiden, ist im Grunde sehr sinnvoll. Umso erstaunlicher ist es, dass die EU-Kommission die eigentlichen Vorteile eines solchen Verfahrens in ihrem Vorschlag gleich wieder beschneidet. So können die Mitgliedstaaten zum Beispiel Schuldner, die sich bereits im vorinsolvenzlichen Verfahren befinden und zahlungsunfähig werden, trotzdem zwingen, einen Insolvenzantrag zu stellen. Die Folge: Wenn das vorinsolvenzliche Verfahren nicht bei den Insolvenzgerichten angesiedelt ist, befassen sich dann mehrere Gerichte mit dem Fall. Aber auch bei nur einem Gericht wird ein Insolvenzverwalter aktiv und die Kosten des Verfahrens steigen. Für Schuldner und Gläubiger könnte damit ein wichtiger Anreiz entfallen, das Verfahren zu nutzen.“
Patrick Ehret, Rechtsanwalt im Geschäftsbereich Internationale Sanierungsberatung/Cross-Border Restructuring and Insolvencies von Schultze & Braun
„Das vorinsolvenzrechtliche Sanierungsverfahren wird bei Umsetzung in Deutschland eine zusätzliche Sanierungsoption ermöglichen, um insbesondere Finanzverbindlichkeiten gegenüber opponierenden Minderheitengläubigern außerhalb des Insolvenzverfahrens zu restrukturieren - neben dem Schutzschirmverfahren als gerichtlichem Insolvenzverfahren sowie dem Schuldverschreibungsgesetz für Anleiherestrukturierungen. Dies erweitert das Spektrum der Sanierungsmöglichkeiten in Deutschland und stärkt damit auch den Sanierungsstandort Deutschland.“
Andreas Ziegenhagen, Leiter der deutschen Büros und der europäischen Praxisgruppe Restrukturierung der internationalen Kanzlei Dentons