EU-Referendum in Großbritannien Der Brexit macht den Amerikanern Angst

So gering das Interesse am EU-Votum der Briten vorher war, so groß ist nun die Aufregung. Die USA diskutieren über die Folgen – und fürchten, dass Donald Trump bessere Siegchancen bei der US-Wahl hat, als bisher gedacht.

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"Wir müssen Europa entgiften"
Nach dem Brexit-Votum in Großbritannien muss Europa aus Sicht von SPD-Parteichef Sigmar Gabriel zur Überwindung der Vertrauenskrise sozialer und gerechter werden. Es gebe eine „massive Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern“ in der Europäischen Union, sagte der Vizekanzler am Samstag in Bonn zum Auftakt einer Reihe von SPD-Regionalkonferenzen. Ob sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland in Zukunft weiter positiv entwickle, hänge entscheidend davon ab, ob Europa „stabil und kräftig“ bleibe. Gabriel betonte, Deutschland sei „Nettogewinner“ und nicht „Lastesel der Europäischen Union“, wie oft behauptet werde. Der Blick der Welt auf Europa werde sich ohne Großbritannien in der EU verändern. Rund 25 Millionen Menschen suchten in Europa Arbeit, darunter viele junge Leute - das sei „verheerend“, betonte Gabriel. „Da geht die Idee Europas verloren“ - und das erzeuge Wut und Verachtung. Der Zorn richte sich gegen das „Sparregime aus Brüssel“ und oft ebenfalls gegen Berlin. Klar sei daher, „dass wir Europa entgiften müssen“. Die EU sei von Anfang an auch als „Wohlstandsprojekt“ gedacht gewesen. Das gehöre dringend wieder stärker in den Fokus. Die EU-Schuldenländer brauchten mehr Freiraum für Investitionen in Wachstum, Arbeit und Bildung, forderte Gabriel. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat den britischen Premierminister scharf kritisiert. Auf die Frage, was er davon halte, dass David Cameron erst im Oktober zurücktreten will, warf Schulz dem Premier vor, er nehme aus parteitaktischen Überlegungen erneut einen ganzen Kontinent „in Geiselhaft“. dpa dokumentiert den Wortlaut: „Offen gestanden: Ich finde das skandalös. Zum wiederholten Male wird ein ganzer Kontinent in Geiselhaft genommen für die parteiinternen Überlegungen der konservativen Partei Großbritanniens. Er hat vor drei Jahren, als er in seiner Partei unter Druck stand, den Radikalen am rechten Rand der Tories gesagt: Ich gebe Euch ein Referendum, dafür wählt Ihr mich wieder. Das hat geklappt. Da wurde ein ganzer Kontinent verhaftet für seine parteiinternen taktischen Unternehmungen. Jetzt ist das Referendum gescheitert. Jetzt sagt der gleiche Premierminister, ja, Ihr müsst aber warten, bis wir (...) mit Euch verhandeln, bis der Parteitag der Konservativen im Oktober getagt hat. Dann trete ich zurück, dann gibt's einen neuen Parteichef, der wird dann Premierminister. Also ehrlich gesagt: Man kann einen Parteitag auch morgen früh einberufen, wenn man das will. Ich finde das schon ein starkes Stück, das der Herr Cameron mit uns spielt.“ Quelle: dpa
Obama, Brexit Quelle: AP
Putin, Brexit Quelle: REUTERS
Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: REUTERS
Portugals Präsident Marcelo Rebelo de Sousa erklärt, dass der Ausgang des Referendums „uns alle nur traurig stimmen kann“. In einer vom Präsidialamt am Freitag in Lissabon veröffentlichten Erklärung betonte das 67 Jahre alte Staatsoberhaupt aber auch: „Das Europäische Projekt bleibt gültig.“ Allerdings sei es „offensichtlich“, so Rebelo de Sousa, dass „die Ideale (der EU) neu überdacht und verstärkt“ werden müssten. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz Quelle: dpa

Noch am Tag der Abstimmung war das EU-Referendum in Großbritannien kein Thema in den USA. Auf CNN diskutierte eine Runde über Obamas Einwanderungsreform und den anstehenden Trip von Donald Trump nach Schottland. Dass in Großbritannien zu dem Zeitpunkt schon die Brexit-Abstimmung ausgezählt wurde, bekam der US-Zuschauer schlicht nicht mit.

Als der Brexit feststand,kam die Aufregung. Plötzlich berichteten alle Medien über den Austritt Großbritanniens aus der EU – und die Folgen für die USA.

Drei Themen dominieren die Diskussion in den Vereinigten Staaten: die Auswirkungen auf die heimische Wirtschaft, auf die politischen Beziehungen zu Europa – und auf die Präsidentschaftswahlen.

Was die Briten an der EU stört
Nationale IdentitätAls ehemalige Weltmacht ist Großbritanniens Politik noch immer auf Führung ausgelegt. London ist gewohnt, die Linie vorzugeben, statt sich mühsam auf die Suche nach Kompromissen zu begeben. „London denkt viel mehr global als europäisch“, sagt Katinka Barysch, Chefökonomin beim Centre for European Reform in London. Die Angst, von EU-Partnern aus dem Süden Europas noch tiefer in die ohnehin schon tiefe Krise gezogen zu werden, schürt zusätzliche Aversionen. Quelle: dpa
Finanztransaktionssteuer und Co.Die Londoner City ist trotz massiven Schrumpfkurses noch immer die Lebensader der britischen Wirtschaft. Großbritannien fühlt sich von Regulierungen, die in Brüssel ersonnen wurden, aber die City treffen, regelrecht bedroht. „Regulierungen etwa für Hedgefonds oder die Finanztransaktionssteuer treffen London viel mehr als jeden anderen in Europa“, sagt Barysch. Allerdings hatte die Londoner City in der Finanzkrise auch mehr Schaden angerichtet als andere Finanzplätze. Quelle: dpa
Regulierungen des ArbeitsmarktsGroßbritannien ist eines der am meisten deregulierten Länder Europas. Strenge Auflagen aus Brüssel, etwa bei Arbeitszeitvorgaben, stoßen auf wenig Verständnis auf der Insel. „Lasst uns so hart arbeiten wie wir wollen“, heißt es aus konservativen Kreisen. Quelle: dapd
EU-BürokratieDie Euroskeptiker unter den Briten halten die Bürokratie in Brüssel für ein wesentliches Wachstumshemmnis. Anti-Europäer in London glauben, dass Großbritannien bilaterale Handelsabkommen mit aufstrebenden Handelspartnern in aller Welt viel schneller aushandeln könne als der Block der 27. Die Euroskeptiker fordern auch, dass der Sitz des Europaparlaments in Straßburg (hier im Bild) abgeschafft wird und die Abgeordneten nur noch in Brüssel tagen. Quelle: dpa
MedienDie britische Presse ist fast durchgehend europafeindlich und prägt das Bild der EU auf der Insel. Das hat auch politische Wirkung. „Ich muss meinen Kollegen in Brüssel dauernd sagen, sie sollen nicht den 'Daily Express' lesen“, zitiert die „Financial Times“ einen britischen Minister. Quelle: dpa

Die Wirtschaft

Spürbar sind zunächst vor allem die Folgen für Aktienmärkte und Wirtschaft. Der Dow Jones gab am Freitag über drei Prozent ab, gleichzeitig gewann der US-Dollar innerhalb von weniger als 24 Stunden mehr 14 Cent zum Pfund. Gegenüber dem Euro legt der Greenback deutlich zu.

Das ist eine Entwicklung, die der Wirtschaft gar nicht schmeckt. Seit Monaten ist der US-Dollar auf Höhenflug und macht den Exporteuren das Leben schwer. Schon rufen die ersten nach der Federal Reserve. Die US-Notenbank hatte erst im Oktober 2014 ihr Quantitative-Easing-Programm beendet und wollte nun, so zumindest die Ankündigung im Dezember, auch eine Zinswende einleiten.

„Das ist auf absehbare Zeit passé“, sagt Sebastian Mallaby, Wirtschaftsexperte beim US-Thintank „Council for Foreign Relations“. Die Fed könne nicht zulassen, dass der Dollar weiter steige. „Ich kann mir derzeit sogar vorstellen, dass die Zentralbank die Zinsen wieder senkt und ein neues QE-Programm auflegt, sollte es weitere Verwerfungen auf den Finanzmärkten geben.“

Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid

Die Politik

Politisch ist die Lage komplizierter. Eigentlich wollten sich die USA schrittweise aus Europa zurückziehen. Der Kontinent wirkte stabil, Amerika wandte sich unter Präsident Obama mehr denn je Asien zu. Und nach der Wahl sollte das Augenmerk gen Naher Osten gehen.

Nun befindet sich die Europäische Union in einer veritablen Krise. Und Großbritannien, der wichtigste Verbündete der USA in Europa ist dabei, sich selbst zu verzwergen. Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem Russland neue Machtspielchen probt.

„In Moskau wird man genüsslich die Abstimmung verfolgt haben. Großbritannien war mit der größte Verfechter von Sanktionen gegenüber Russland aufgrund der Vorfälle in der Ukraine“, sagt Richard Haass, Chef des „Council for Foreign Relations“ und früherer Berater des Ex-US-Außenministers Colin Powell.

Trump: „Großbritannien hat „sich sein Land zurückgeholt“

Die USA verlören in Großbritannien einen wichtigen Partner. „Die speziellen Beziehungen der USA zu Großbritannien werden weniger speziell“, sagt Haass. Die USA könnten England nicht links liegen lassen, müssten sich aber intensiver anderen Partnern zuwenden, die nun eine mächtigere Stellung hätten: etwa Deutschland, Frankreich und Polen.

Zwar ist Großbritannien weiterhin NATO-Mitglied, doch um eine gemeinsame Position mit Europa in wirtschafts- und außenpolitischen Fragen zu finden, reichen den USA nicht mehr zwei Telefonnummern (die von Großbritannien und Deutschland). Nun muss ein ganzes Telefonbüchlein her.

Der Wahlkampf

Viel Arbeit also für den nächsten US-Präsidenten. Die Sorge in den USA, dass dieser Donald Trump heißt, ist durch das Brexit-Votum der Briten, dramatisch gestiegen.

Was, fragen sich Politikbeobachter und Bürger, wenn die Umfrageinstitute in Amerika ähnlich falsch liegen wie die britischen Statistiker mit ihren Brexit-Prognosen? Derzeit liegt die designierte demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton in Umfragen stabil, teils deutlich, vorne. Doch was sind solche Aussagen noch wert? Schließlich prognostizierten die britischen Meinungsforscher und Buchmacher noch am Wahltag eine Mehrheit für den Verbleib Großbritanniens in der EU.

„Das Referendum in Großbritannien zeigt, wie groß in den westlichen Demokratien die Unzufriedenheit mit dem Status quo ist“, sagt auch Haass. Es gebe eine große Zahl von Bürgern, die sich von guten Gründen nicht überzeigen ließe und schlicht für Nationalismus und gegen Globalisierung stimmen würden. „Die Ablehnung des so genannten Establishments ist scheinbar mehrheitsmäßig.“

Donald Trump nutzte dann auch direkt das Briten-Votum zum Wahlkampf. Großbritannien habe „sich sein Land zurückgeholt“, schrieb er in einer Rundmail an seine Anhänger. Sie hätten „Großbritannien an erster Stelle gesetzt“ und sich für „Freiheit und Unabhängigkeit“ entschieden. „Mit eurer Hilfe werden wir genau das Gleiche am Wahltag 2016 hier in den USA machen“, verspricht Trump.

So sähen Kaufkurse für die 30 Dax-Aktien aus

Wurde der Milliardär anfänglich für seine stumpfen Parolen und der Forderung nach „America first“ belächelt, ist den meisten US-Amerikanern das Lachen inzwischen eingefroren.

Politikberater Haass mahnt das Clinton-Lager, „das Aufkeimen von Nationalismus im Land nicht zu unterschätzen“. Insbesondere in den industriell geprägten Bundesstaaten im Nordosten und Mittleren Westen – Hochburgen der Demokraten – sei die Bereitschaft hoch, den Etablierten einen Denkzettel zu verpassen. „Die Ablehnung des Freihandels und das Versprechen, die Politik in Washington in ihren Grundfesten zu erschüttern, könnte dort mehrheitlich gut ankommen.“

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