
Nach einem dramatischen Gipfelmarathon haben die EU-Staats- und Regierungschefs einen endgültigen Beschluss zu einem Flüchtlingsabkommen mit der Türkei vertagt. Bis zum nächsten EU-Gipfel am 17. und 18. März bleibe noch Arbeit für eine endgültige Vereinbarung zu tun, bilanzierte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach rund zwölfstündigen Beratungen in Brüssel.
Beim eintägigen Gipfel mit dem türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu ging es um ein umfassendes Paket, um den Flüchtlingszustrom nach Europa einzudämmen. Davutoglu überraschte dabei mit weitgehenden Plänen, die viele EU-Chefs unvorbereitet trafen.
„Ich habe keinen Zweifel, dass wir den endgültigen Erfolg erzielen werden“, resümierte EU-Gipfelchef Donald Tusk am frühen Dienstagmorgen in Brüssel. Die „Tage der ungeregelten Migration“ in die EU seien vorüber. „Wir wollen alle unsere Versprechen erfüllen“, versicherte Davutoglu.
Reaktionen zu möglichen Grenzschließungen
Anton Börner, Präsident des Außenhandelsverband BGA, warnt im "Tagesspiegel" vor Grenzschließungen. Rund 70 Prozent des deutschen Außenhandels würden innerhalb Europas abgewickelt. "Vor diesem Hintergrund werden sich die Kosten alleine für die internationalen Straßentransporte um circa drei Milliarden Euro verteuern."
"Durch Staus und Wartezeiten, zusätzliche Bürokratie oder zum Beispiel die Umstellung von Just-in-time-Lieferung auf deutlich teurere Lagerhaltung können sich die Kosten für die deutsche Wirtschaft schnell auf zehn Milliarden Euro pro Jahr summieren", mahnt DIHK-Geschäftsführer Martin Wansleben.
Der Vize-Präsident des Europaparlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP), sagte der "Rheinischen Post": „Die Schließung der deutschen Grenzen wäre ein Debakel für die Flüchtlinge, für die Wirtschaft, aber auch für Millionen Pendler und Urlauber.“
"Verstärkte Kontrollen ist was anderes, aber eine komplette Schließung ist absolut illusorisch. Und man sollte den Leuten da keine Scheinlösungen anbieten“, sagte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley im Deutschlandfunk.
"Wenn die Grenzen geschlossen würden, ist Schengen gefährdet. Das hat ebenfalls große Auswirkungen auf Deutschland, auf Arbeitsplätze in Deutschland", sagte der nordrhein-westfälische CDU-Landesvorsitzende Armin Laschet.
Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras warnte allerdings vor überzogener Euphorie. Die Gipfel-Ergebnisse seien lediglich ein Schritt nach vorne, zahlreiche Schritte seien noch nötig. „Die heutigen Bilder aus Idomeni, von unserer nördlichen Grenze, sind tragisch.“ Dort sitzen Tausende Flüchtlinge an der mazedonischen Grenze fest.
Davutoglus Angebot sieht vor, dass die EU alle illegal einreisenden Migranten von den griechischen Inseln wieder in die Türkei zurückschicken kann. Zugleich will die Türkei ebenso viele Migranten auf legalem Weg in die EU weitergeben. Unklar blieb, welche EU-Staaten die Tausenden von Menschen aufnehmen werden.
Zudem fordert Ankara eine Verdoppelung der Hilfszusagen der EU für in der Türkei lebende Flüchtlinge von drei auf sechs Milliarden Euro. Für die verlangten zusätzlichen drei Milliarden Euro gab es jedoch kein klares Gipfel-Signal. In der Abschlusserklärung war nur von zusätzlichen Geldmitteln die Rede.
In der Debatte um Pressefreiheit in seinem Land sagte Davutoglu: „Die Meinungsfreiheit ist unser gemeinsamer Wert, und sie wurde und wird in der Türkei geschützt.“
Neben der regierungskritischen Zeitung „Zaman“ war auch die mit dem Blatt eng verbundene Nachrichtenagentur Cihan unter staatliche Zwangsaufsicht gestellt worden. Nach Angaben von Cihan ernannte das Istanbuler Gericht dieselben Treuhänder wie bei „Zaman“. Weder er noch seine Regierung hätten darauf Einfluss gehabt, sagte Davutoglu. Das Thema Medienfreiheit wurde beim Gipfel debattiert, so EU-Ratschef Tusk. „Wir wissen alle, wie wichtig Freiheit der Rede und Meinungsfreiheit sind.“
Merkel zog eine positive Gipfel-Bilanz. „Viele waren sich einig, dass das ein Durchbruch ist“, sagte sie. Auf die Frage, ob ihr vor den drei Landtagswahlen am kommenden Sonntag ein größerer Fortschritt lieber gewesen wäre, sagte Merkel, die Entwicklung nehme „keinerlei Rücksicht auf nationale politische Termine“.
Status und Schutz von Flüchtlingen in Deutschland
Immer mehr Flüchtlinge kommen nach Deutschland. Viele von ihnen dürfen nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl aus unterschiedlichen rechtlichen Gründen bleiben. Dabei reicht die Spannbreite vom Asylstatus bis zu einer befristen Duldung mit drohender Abschiebung.
Flüchtlinge, die in ihrem Heimatländern politisch verfolgt werden, haben laut Artikel 16 a des Grundgesetzes Anspruch auf Asyl. Hierfür gibt es allerdings zahlreiche Schranken, die Ablehnungsquote bei Asylanträgen liegt bei 98 Prozent. Schutz und Bleiberecht etwa wegen religiöser Verfolgung oder der sexuellen Orientierung wird auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt. Für die Praxis spielt die genaue rechtliche Grundlage allerdings keine Rolle: Anerkannte Asylberechtigte erhalten gleichermaßen eine Aufenthaltserlaubnis, die nach drei Jahren überprüft wird. Auch bei den staatlichen Unterstützungsleistungen, etwa Arbeitslosengeld II oder Kindergeld, gibt es keine Unterschiede.
Sogenannten subsidiären, also nachrangigen, Schutz erhalten Flüchtlinge, die zwar keinen Anspruch auf Asyl haben, in ihrer Heimat aber ernsthaft bedroht werden, etwa durch Bürgerkrieg oder Folter. Sie sind als „international Schutzberechtigte“ vor einer Abschiebung erst einmal sicher und erhalten eine Aufenthaltserlaubnis für zunächst ein Jahr. Die Erlaubnis wird verlängert, wenn sich die Situation im Heimatland nicht geändert hat.
Eine Duldung erhält, wer etwa nach einem gescheiterten Asylantrag zur Ausreise verpflichtet ist, aber vorerst nicht abgeschoben werden kann. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn kein Pass vorliegt oder es keine Flugverbindung in eine Bürgerkriegsregion gibt. Fällt dieses sogenannte Hindernis weg, droht dem Betroffenen akut die Abschiebung. Zu den Hindernissen für eine Abschiebung zählt unter anderem auch der Schutz von Ehe und Familie. Beispielweise kann ein Ausländer, der hier mit einer Deutschen ein Kind hat, nicht ohne weiteres abgeschoben werden.
Die Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei sieht Merkel weiter als ergebnisoffen. „Die Beitrittsfrage stellt sich derzeit nicht“, sagte sie zur Aussicht für Ankara auf beschleunigte Verhandlungen.
Laut Davutoglu haben die EU-Staaten rasche Visaerleichterungen für türkische Staatsbürger bereits grundsätzlich akzeptiert. „Wir hoffen, dass spätestens Ende Juni türkische Bürger ohne Visum in die Schengenzone reisen können.“ Bevor die Erleichterungen kommen können, müssen in der EU noch mehrere Hürden genommen werden, betonte EU-Parlamentschef Martin Schulz.
EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker sagte, die EU werde künftig auch unerlaubt einreisende Syrer wieder in die Türkei zurückschicken können. Damit die Türkei mit der Last nicht alleine bleibe, müsse die EU aber für jeden von den griechischen Inseln zurückgebrachten Syrer einen syrischen Bürgerkriegsflüchtling auf legalem Weg aufnehmen. Diplomaten sprachen von der „Eins-zu-Eins“-Formel.
Entgegen der ursprünglich vorbereiteten EU-Gipfelerklärung wird die Balkanroute nicht mehr als geschlossen bezeichnet. „Irreguläre Ströme von Migranten entlang der Route des westlichen Balkans müssen nun enden“, heißt es in dem Abschlusstext. Vor allem Deutschland und Griechenland wandten sich gegen den Textvorschlag, die Route für „geschlossen“ zu erklären.
Der Gipfel kündigte auch an, Griechenland bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise zu helfen. Dort sind wegen der blockierten Balkanroute Zehntausende Menschen gestrandet. Die EU-Kommission hatte bereits eine Nothilfe von bis zu 700 Millionen Euro vorgeschlagen.