




Die EU stellt der Türkei eine raschere Abschaffung des Visumszwangs für ihre Bürger in Aussicht, wenn das Land im Gegenzug den Transit von Flüchtlingen in Richtung Europa eindämmt. Bereits ab Oktober 2016 und damit ein Jahr früher als geplant könnten Türken ohne Visum in den Schengenraum einreisen, falls die Regierung in Ankara bis dahin alle Anforderungen erfülle, erklärten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) und der Türkei nach einem Gipfeltreffen am Sonntag in Brüssel.
Über das Mittelmeer nach Europa: Zahlen zu Flüchtlingen
Trotz der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer wagen viele Tausend Menschen die Flucht nach Europa. 219.000 Menschen flohen laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR 2014 über das Mittelmeer nach Europa; 2015 waren es bis zum 20. April 35.000.
3.500 Menschen kamen 2014 bei ihrer Flucht ums Leben oder werden vermisst; im laufenden Jahr sind es bis zum 20. April 1600.
170.100 Flüchtlinge erreichten 2014 über das Meer Italien (Januar bis März 2015: mehr als 10.100); weitere 43.500 kamen nach Griechenland, 3.500 nach Spanien, 570 nach Malta und 340 nach Zypern.
66.700 Syrer registrierte die EU-Grenzschutzagentur Frontex 2014 bei einem illegalen Grenzübertritt auf dem Seeweg, 34.300 Menschen kamen aus Eritrea, 12.700 aus Afghanistan und 9.800 aus Mali.
191.000 Flüchtlinge stellten 2014 in der EU einen Asylantrag (dabei wird nicht unterschieden, auf welchem Weg die Flüchtlinge nach Europa kamen). Das sind EU-weit 1,2 Asylbewerber pro tausend Einwohner.
...beantragten 2014 in der EU Asyl (2013: 50.000).
202.700 Asylbewerber wurden 2014 in Deutschland registriert (32 Prozent aller Bewerber), 81.200 in Schweden (13 Prozent) 64.600 in Italien (10 Prozent), 62.800 in Frankreich (10 Prozent) und 42.800 in Ungarn (7 Prozent).
Um 143 Prozent stieg die Zahl der Asylbewerber im Vergleich zu 2013 in Italien, um 126 Prozent in Ungarn, um 60 Prozent in Deutschland und um 50 Prozent in Schweden.
Mit 8,4 Bewerbern pro tausend Einwohner nahm Schweden 2014 im Verhältnis zur Bevölkerung die meisten Flüchtlinge auf. Es folgten Ungarn (4,3), Österreich (3,3), Malta (3,2), Dänemark (2,6) und Deutschland (2,5).
600.000 bis eine Million Menschen warten nach Schätzungen der EU-Kommission allein in Libyen, um in den nächsten Monaten die Überfahrt nach Italien oder Malta zu wagen.
Zudem will die EU die festgefahrenen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wieder in Schwung bringen und zunächst drei Milliarden Euro zur Versorgung der Flüchtlinge vor Ort zahlen. Im Gegenzug verpflichtet sich die Türkei, die Ausreise von Menschen ohne Asylanspruch in Richtung Europa zu verhindern und abgeschobene Asylbewerber zurückzunehmen.
Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu trat sichtlich gut gelaunt vor die Presse und sprach von einem historischen Tag. "Ich danke allen europäischen Staats- und Regierungschefs für diesen Neubeginn", erklärte er lächelnd. Bereits im Dezember soll nach langer Pause ein neues Kapital der nach Themen gegliederten EU-Beitrittsverhandlungen eröffnet werden. Weitere Kapitel wollen die Diplomaten für das erste Quartal 2016 verhandlungsreif machen. Das Gipfeltreffen sollte nach Davutoglus Worten aber auch ein Forum sein, um über Spannungen zu reden.
Denn die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei waren in den vergangenen Jahren zunehmend abgekühlt, die Beitrittsgespräche stecken seit langem in der Sackgasse. Die EU beobachtet die Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, dem eine Aushöhlung der Demokratie in seinem Land vorgeworfen wird, kritisch.
Merkel selbst steht einem EU-Beitritt der Türkei, die an Syrien, den Irak und den Iran grenzt, seit jeher skeptisch gegenüber. Bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise ist die Führung in Ankara aber ein wichtiger Partner. Allein in diesem Jahr gelangten nach den Worten von EU-Ratspräsident Donald Tusk 1,5 Millionen Menschen auf illegalem Wege in die EU. Hunderttausende von ihnen strömten durch die Türkei nach Europa, viele von ihnen reisen nach Deutschland.
Die Kanzlerin verteidigte daher die Annäherung an die Türkei. "Wenn man nicht miteinander redet, kann man auch die Kritik bestenfalls über die Medien äußern - aber das führt meistens noch zu keiner Problemlösung", sagte sie. Strategische Partner müssten Kritik untereinander offen aussprechen. Das Treffen in Brüssel, bei dem unter anderem über Pressefreiheit und Menschenrechte gesprochen worden sei, habe dafür auch für die Zukunft eine Möglichkeit eröffnet.
Merkel betonte zugleich, die Türkei habe einen Anspruch darauf, dass ihr die EU bei der Bewältigung der Krise unter die Arme greife. "Es geht (...) darum, dass die Türkei weit mehr als zwei Millionen Flüchtlinge beherbergt und dafür wenig internationale Unterstützung bekommen hat." Die Türkei erwarte mit Recht, dass die EU sie bei der Bewältigung dieser Aufgabe entlaste.
Unklar ist bislang allerdings, wie die drei Milliarden Euro finanziert werden, die in Flüchtlingsprojekte in der Türkei fließen sollen. Auch eine Verabredung zur Übernahme von Flüchtlingen aus der Türkei wurde nach den Worten Merkels nicht getroffen. In Medienberichten war über die Aufnahme von 400.000 Flüchtlingen spekuliert worden.
Mit der vorgezogenen Visafreiheit für seine Bürger in der EU erringt Erdogan einen Prestige-Erfolg. Bisher benötigen fast alle Türken für geschäftliche oder private Reisen in die EU ein Visum. Der Prozess zur Liberalisierung läuft schon länger, ursprünglich sollte der Visumszwang aber erst 2017 fallen. Bis es so weit ist, muss die Türkei allerdings noch diverse technische Voraussetzungen erfüllen und unter anderem sicherstellen, dass Pässe fälschungssicher sind. Die gegenseitigen Verpflichtungen von EU und Türkei sollen Zug um Zug umgesetzt werden, um Vertrauen zu schaffen. "Worüber natürlich dann noch diskutiert wird: Wer muss den ersten Zug machen?", fügte Merkel hinzu.