
Der Gipfel zwischen der EU und der Türkei an diesem Sonntag verdeutlicht, in welcher Zwangslage sich Europa befindet. Die 28 EU-Staaten gehen als Bittsteller auf die Türkei zu, damit diese Flüchtlinge an der Weiterreise nach Europa hindert. „Wir brauchen die Unterstützung der Türkei“, heißt es aus der Bundesregierung seit Wochen.
Bis zum Abend wollen die europäischen Staats- und Regierungschefs sich mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu auf einen Aktionsplan einigen, der in einem ersten Schritt der Türkei drei Milliarden Euro an Unterstützung sichert. Die Türkei kann aber nicht nur auf Geld hoffen. Türken sollen schon ab Oktober 2016 ohne Visum nach Europa reisen können, und vor allem sollen nach Jahren des Stillstands die Beitrittsverhandlungen wieder aufgenommen werden.





Außerdem sollen zwei Mal im Jahr Gipfel zwischen der EU und der Türkei stattfinden. Im Entwurf der Abschlusserklärung ist die Rede davon, dass die Beziehungen „revitalisiert“ werden sollen, um das „volle Potenzial“ zu nutzen. Aus ihrer Notlage heraus werden die Europäer jedoch etwas machen, das sie nicht unbedingt beabsichtigen: Sie stärken den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Der lässt die Europäer nur allzu deutlich spüren, dass sie auf ihn angewiesen sind. Alleine indem er nicht selbst nach Brüssel kommt, sondern den Ministerpräsidenten schickt, setzt er ein Zeichen. Wie wenig sich Erdogan um Grundrechte schert, bewies er kurz vor dem Gipfel, als er vergangene zwei Woche zwei unliebsame Journalisten verhaftete. Die EU-Kommission musste zugestehen, dass es sich dabei um einen „Besorgnis erregenden Vorfall“ handele. Mit seinem Timing hat Erdogan aber gezeigt, mit welchem Selbstverständnis er in der Türkei regiert – und dass er nicht gewillt ist, sich westlichen Vorstellungen von Demokratie anzupassen.
Über das Mittelmeer nach Europa: Zahlen zu Flüchtlingen
Trotz der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer wagen viele Tausend Menschen die Flucht nach Europa. 219.000 Menschen flohen laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR 2014 über das Mittelmeer nach Europa; 2015 waren es bis zum 20. April 35.000.
3.500 Menschen kamen 2014 bei ihrer Flucht ums Leben oder werden vermisst; im laufenden Jahr sind es bis zum 20. April 1600.
170.100 Flüchtlinge erreichten 2014 über das Meer Italien (Januar bis März 2015: mehr als 10.100); weitere 43.500 kamen nach Griechenland, 3.500 nach Spanien, 570 nach Malta und 340 nach Zypern.
66.700 Syrer registrierte die EU-Grenzschutzagentur Frontex 2014 bei einem illegalen Grenzübertritt auf dem Seeweg, 34.300 Menschen kamen aus Eritrea, 12.700 aus Afghanistan und 9.800 aus Mali.
191.000 Flüchtlinge stellten 2014 in der EU einen Asylantrag (dabei wird nicht unterschieden, auf welchem Weg die Flüchtlinge nach Europa kamen). Das sind EU-weit 1,2 Asylbewerber pro tausend Einwohner.
...beantragten 2014 in der EU Asyl (2013: 50.000).
202.700 Asylbewerber wurden 2014 in Deutschland registriert (32 Prozent aller Bewerber), 81.200 in Schweden (13 Prozent) 64.600 in Italien (10 Prozent), 62.800 in Frankreich (10 Prozent) und 42.800 in Ungarn (7 Prozent).
Um 143 Prozent stieg die Zahl der Asylbewerber im Vergleich zu 2013 in Italien, um 126 Prozent in Ungarn, um 60 Prozent in Deutschland und um 50 Prozent in Schweden.
Mit 8,4 Bewerbern pro tausend Einwohner nahm Schweden 2014 im Verhältnis zur Bevölkerung die meisten Flüchtlinge auf. Es folgten Ungarn (4,3), Österreich (3,3), Malta (3,2), Dänemark (2,6) und Deutschland (2,5).
600.000 bis eine Million Menschen warten nach Schätzungen der EU-Kommission allein in Libyen, um in den nächsten Monaten die Überfahrt nach Italien oder Malta zu wagen.
Wenn die Europäer nun im Dezember die Verhandlungen zum Kapitel zur Wirtschafts- und Währungsunion eröffnen wollen und möglicherweise im kommenden Jahr weitere Kapitel folgen lassen, dann kann Erdogan das als Prestigegewinn verbuchen.