EU-Verfahren gegen Warschau Polens Rechtsruck fordert Europa heraus

Die Angriffe der polnischen Regierung auf die Pressefreiheit, Demokratie und Justiz erschüttern die Europäische Union. Brüssel beginnt nun eine umfassende Prüfung. Gelten im Nachbarland etwa europäische Werte nicht mehr?

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Ministerpräsidentin Szydło Quelle: REUTERS

Es gibt einen Moment auf diesen vielen EU-Gipfeln, die Europa einen sollen, in denen sich verlässlich zeigt, dass noch nicht zusammengewachsen ist, was zusammengehören soll. Dann stehen nämlich auf den Stufen vorm Brüsseler Tagungszentrum die Gastgeber Jean-Claude Juncker, EU-Kommissionspräsident, und Donald Tusk, Vorsitzender des Europäischen Rates, nebeneinander und begrüßen die eintreffenden Staats- und Regierungschefs. Juncker liebt diese Momente, er lacht, er knufft, er küsst, er scherzt. Tusk steht meist reglos daneben, bisweilen guckt er gar ärgerlich, wenn Juncker mal wieder arg lange braucht. Zu offensichtlich ist der Unterschied zwischen dem begeisterten Vollbluteuropäer Juncker und dem mitunter etwas blutleer daherkommenden Tusk.

Dabei ist der ehemalige polnische Regierungschef Europas Vorzeigeosteuropäer, Kanzlerin Angela Merkel hat ihn mit ins Amt gehievt. Aber in Brüssel fremdelt der Pole, einen „Totalausfall“ nennen ihn Insider. Und nun kann er nicht einmal auf eine weitere Amtszeit hoffen, weil seine polnische Heimat sich soeben noch viel weiter von Europa zu entfremden scheint als selbst der in Brüssel fremdelnde Tusk.

Angst um den Rechtsstaat

Kaum kam die neue Regierung in Warschau im November an die Macht, ersetzte sie im Regierungssitz die blauen Europafahnen durch rot-weiße polnische Flaggen. Seit die nun tonangebende nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) um Regierungschefin Beata Szydło zudem durch umstrittene Gesetze die Macht des Verfassungsgerichts ausgehebelt und staatliche Medien auf Linie gebracht hat, wächst europaweit die Sorge, dass sie es mit der Rechtsstaatlichkeit nicht so ernst nimmt – und mit europäischen Werten sowieso nicht.

Die EU-Kommission prüft nun offiziell die Vorgänge in Polen, ein bislang einmaliger Vorgang. Dabei wird es um sehr Grundsätzliches gehen. Ist Europa noch eins, gerade da es besonders einig sein muss, in der Flüchtlingskrise und den Nachwehen der Euro-Misere? Verlief die Osterweiterung der Gemeinschaft zu schnell, wie selbst EU-Kommissare munkeln, weil immer noch ein kultureller Graben Ost und West in Europa trennt? Gefährdet eine Abkehr von offener Gesellschaft und offenen Grenzen womöglich die Wirtschaftszusammenarbeit mit Polen, das viele doch als Konjunkturlokomotive sahen, mit einem soliden Wirtschaftswachstum und gut 40 Millionen meist gut ausgebildeten Menschen?

Aus Warschau erklingen dazu aggressive Töne, etwa vom regierungsnahen Blatt „Nasz Dziennik“: „Einige Westeuropäer haben doch bisher mit ihrer stillen Zustimmung zur Vorgängerregierung das Land Polen fast wie eine Kolonie ausgebeutet.“ Dagegen wirken die Einlassungen aus Brüssel sehr zahm, bislang hat die EU-Kommission nur Briefe geschrieben. Theoretisch steht ihr zwar ein starkes Sanktionsmittel zur Verfügung: Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union sieht vor, dass einem Mitgliedstaat, der die gemeinsamen Werte verletzt, das Stimmrecht bei Abstimmungen im EU-Rat entzogen werden kann.

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