Mehrfach wurde in den vergangenen Jahren erwogen, den Artikel heranzuziehen, etwa als Frankreich Roma auswies oder Ungarn undemokratische Reformen beschloss. Doch zum Schwur kam es nie.
Schließlich müssen die anderen Mitgliedstaaten einstimmig beschließen, dass „eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung“ der Werte der EU vorliegt. Aktuell ist etwa schwer vorstellbar, dass Ungarns Viktor Orbán zustimmen würde. Weil die Hürden für ein Verfahren nach Artikel 7 so hoch sind, hat die EU 2014 ein Frühwarnsystem geschaffen, den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus. Allerdings droht der polnischen Regierung dadurch höchstens ein politischer Imageverlust. Nach einem Dialog mit dem betroffenen Staat kann die Kommission Empfehlungen abgeben und eine Frist setzen.
Der Ausländerhass in Polen ist groß
Aber was dann? Kanzlerin Angela Merkel vermag das Machtvakuum diesmal nicht zu füllen, die polnische Führung hat sich Lektionen aus Berlin bereits verbeten. „Deutschland schuldet uns viel in allen Bereichen, von der Moral bis zur Wirtschaft“, richtete PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński vorsorglich aus.
Das EU-Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit
Im Kampf gegen staatliche Willkür in Mitgliedstaaten hat sich die EU im März 2014 ein neues Verfahren zugelegt. Damit gibt es die Möglichkeit, Gefahren gegen die Rechtsstaatlichkeit zu untersuchen. Dabei kann es um Verstöße gegen gemeinsame Grundwerte, Probleme bei der Achtung der Menschenwürde sowie Einschränkungen in den Bereichen Freiheit oder Demokratie gehen.
Das Verfahren ist eine Art Frühwarnmechanismus und läuft in drei Stufen ab: Zunächst bewertet die EU-Kommission, ob die Rechtsstaatlichkeit gefährdet ist. Falls dies der Fall ist, übermittelt die Kommission ihre Bedenken. Die betreffende Hauptstadt kann antworten.
In einem zweiten Schritt spricht die Kommission Empfehlungen aus.
In der dritten Phase wird überprüft, inwiefern der Mitgliedstaat diese Empfehlungen innerhalb einer gewissen Frist in die Tat umsetzt.
Verläuft dies alles ergebnislos, bleibt der Kommission noch das Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags - im Diplomatenjargon ist das die „Atombombe“. Dabei kann bei „schwerwiegender und anhaltender Verletzung“ der im EU-Vertrag verankerten Werte einem Staat in letzter Konsequenz das Stimmrecht bei Ministerräten und EU-Gipfeln entzogen werden.
Das Rechtsstaatlichkeitsverfahren wurde nicht ohne Grund geschaffen. Hintergrund waren Auseinandersetzungen mit Ungarns rechtskonservativem Premier Viktor Orban nach seinem Wahlsieg 2010. Die Kommission sah die Medienfreiheit sowie die Unabhängigkeit von Richtern und der Justiz in Gefahr. Das Verfahren wurde noch nicht benutzt. Auch der Artikel 7 wurde bisher nicht aktiviert. Ergänzend zum Verfahren der EU-Kommission einigten sich die EU-Staaten im Dezember 2014 darauf, dass bei europäischen Ministertreffen Rechtsstaatsprinzipien debattiert werden können, um politischen Druck auszuüben.
Für die EU sind Polens nationalistische Alleingänge besonders bitter, weil das größte Beitrittsland bislang konstruktiv in Brüssel mitarbeitete. „Wir wollen zum Ursprung europäischer Lösung werden“, sagte vor drei Jahren der damalige Außenminister Radosław Sikorski.
Doch nun könnte das Land zu Europas Problem werden, wie Miriam Shaded zeigt, Gründerin einer populistischen Stiftung gegen muslimische Einwanderer. Die junge IT-Unternehmerin trägt schwarze High Heels mit Absätzen, so hoch und spitz, dass sie an Waffen erinnern, und sie formuliert ähnlich scharf. „Muslime sind wie eine Armee“, sagt Shaded, „sie vergewaltigen Frauen und sind Terroristen.“
Die Pfarrerstochter polnisch-syrischer Eltern ist zum schönen Gesicht der polnischen Islamophobie avanciert – und kann auf viel Unterstützung hoffen. Laut dem Meinungsforschungsinstitut CBOS haben 44 Prozent der Polen eine negative Einstellung gegenüber Muslimen. Auch PiS versprach, Ausländer rauszuhalten – und gewann die Wahl.
Damit beweist Polen ein Axiom des Fremdenhasses: Je weniger Ausländer, desto größer der Hass. Polen ist ein erstaunlich homogenes Land, mehr als 95 Prozent katholisch, über 99,8 Prozent polnisch. Schätzungen gehen von lediglich rund 50.000 Muslimen im Land aus. Das entspricht rund 0,1 Prozent der Bevölkerung.
Auch von der Flüchtlingsmigration bekommt die Nation kaum etwas mit – etwa 11.600 Menschen haben bis Dezember letzten Jahres Asyl in Polen beantragt, die meisten kamen aus Russland und der Ukraine. Weniger als 300 Syrer bekamen bis Oktober den Asylstatus. Dennoch verlangte nach den Paris-Anschlägen der polnische Europaminister unverzüglich, keine Menschen mehr aufnehmen zu müssen.