Norbert Blüm „Wenn Europa untergeht, geht unsere Kasse mit unter“

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Festung Europa

Der Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg war eine „kopernikanische Wende“. Die Welt sollte sich nicht mehr um die Nationen drehen.

Die alten Männer De Gasperie, Schumann, Monnet, Adenauer verfolgten mitten im Elend eine Idee, nämlich die Einigung Europas. Die Jungen räumten Schlagbäume weg! Ich war dabei! Mit leerem Magen und Begeisterung.

Glückliche Stunden!

Ich kenne aus den letzten Jahren nur zwei Ereignisse, in denen ein vergleichbarer Idealismus wie in der Nachkriegszeit die Herzen der Menschen ergriff: den Mauerfall 1989 und den Flüchtlingsansturm 2015. Die Bilder vergesse ich nie. Wildfremde Menschen, die sich mit Freudentränen unter dem Brandenburger Tor in den Armen lagen und spontane Willkommensgrüße auf dem Münchener Hauptbahnhof für verzweifelte Flüchtlinge.

Es war unsere besten Zeiten seit Langem. Jetzt verstecken wir unseren Idealismus, zu dem wir offenbar fähig sind, als wäre er eine Jugendsünde, vergleichbar dem Knutschfleck am Hals, den wir mit einem Schal verstecken.

Armin Schuster, der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU Bundestagsfraktion spricht rückblickend von einer „undifferenzierten Willkommenskultur“. Wie hätte denn bitte eine „differenzierte Willkommenskultur“ 2015 aussehen sollen? Hätten wir die Flüchtlinge mit Wasserwerfern samt Kind und Kegel von der Autobahn Budapest/Wien spritzen oder im Bahnhof Budapest im Unrat verkommen lassen sollen?

Ein differenziertes „Willkommen“ ist so lächerlich wie der Genesungswunsch, mit dem der Betriebsrat dem kranken Chef mitteilt, dass er mit 5:4 Stimmen entschieden habe, ihm „Gute Besserung!“ zu wünschen.

Ich war damals auf „meine CDU“ und ihre Vorsitzende Angela Merkel stolz. Das „C“ in unserem Parteinamen glänzte als Signum christlicher Barmherzigkeit. Jetzt sind alle dabei, sich eifrig wechselseitig zu versichern, „so etwas darf niemals mehr vorkommen“. Selbst die neue CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer raunt ähnlich Unverständiges. Was denn soll nicht mehr vorkommen? Dass wir Hunderttausenden das Leben gerettet haben? War das eine Schande?

„Du sollst Gott lieben mit all Deinen Kräften und Deinen Nächsten wie Dich selbst.“ Das ist der Kern der christlichen Botschaft. Und wer ist Dein Nächster? Nicht Dein Stammes-, Religions- oder Klassengenosse, sondern der, „der unter die Räuber fiel“. Das ist nämlich die revolutionäre Quintessenz des biblischen Gleichnisses vom guten Samariter (und dessen Botschaft gilt nicht nur für die sentimentalen Erbaulichkeiten von Kirchentagen).

Jetzt soll Europa zur Festung ausgebaut werden. Mauern, Stacheldraht, Wachhunde ist unser neues europäisches Projekt, für das alle Kräfte mobilisiert werden. Welche Mauer, die Völker schützen sollte, hat je ihren Zweck erfüllt. Weder der Limes noch die Chinesische Mauer haben gehalten, was ihre Erbauer versprachen. Selbst der mit Mienen und Wachhunden und von Armeen gesicherte Eiserne Vorhang war nur ein vergängliches, kurzzeitiges Hindernis.

Eingeschlossen vom Elend draußen will Europa offenbar drinnen wie bisher seine Feste ungestört feiern. Niemand erkennt ein mögliches Menetekel, das wie im alten Babylon an die Wand geschrieben König Belsazar den Untergang seines Reiches ankündigte: „Gewogen und zu leicht befunden“.

Die Flüchtlingsströme sind nur die Vorboten großer globaler Turbulenzen.

Wenn erst einmal die Verhungernden und Verdurstenden Afrikas sich auf die Völkerwanderung zu den Fleischtöpfen und Brunnen Europas machten und z.B. von Nestle und Danone das Wasser zurück verlangen, dass diese ihnen in Afrika abgegraben haben, und wenn die Ausgebeuteten das Geld für die Bodenschätze zurückverlangen, die ihnen die Kolonisten geraubt haben, dann wird weder irgendeine europäische Wasserschutzpolizei noch Mauern und Stacheldraht dem Andrang gewachsen sein.

Die Ursachen des Elends müssen bekämpft werden, nicht die Folgen. Unsere mickrige Entwicklungshilfe wurde gekürzt. Der Wehretat erhöht. Ist das Ursachenbekämpfung?

Die Vorstellung von der Festung Europa, die gegen alle Erschütterungen und Umbrüche auf der Welt gefeit ist, ist so realistisch wie die baldige Besiedlung des Mars.

Ohne den Glauben, dass Ideen stärker sind als alle materiellen Verhältnisse, hat Europa keine Zukunft. Europa lediglich als Summe nationaler Interessen wird so spurlos verschwinden wie Dschingis Khan oder verglühen wie ein durch das Weltall stürzender Komet, bestenfalls bleiben Reste , die dann vielleicht von den Chinesen als archäologisches Wunder den staunenden Touristen vorgeführt werden, wie heute die restaurierten Überbleibsel der Chinesischen Mauer.

Nation ist von vorgestern.

Europa gehört die Zukunft.

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