Ein Einkauf im Supermarkt kann in diesen Tagen schnell zu einem teuren Vergnügen werden. Wer beim Frühstück nicht am Brotaufstrich sparen will, muss für ein Päckchen Markenbutter fast ein Drittel mehr auf den Tresen legen als vor einem Jahr. Das Glas Milch zum Frühstück kostet 20 Prozent mehr, der Quark ist 13 Prozent teurer. Da dürfte so manchem Bundesbürger der Appetit auf das geliebte Frühstücksbrötchen vergehen. 4,2 Prozent mehr als im Vorjahr müssen die Deutschen derzeit für Nahrungsmittel berappen. Ein Preisschub, der selbst die ordentlichen Lohnzuwächse der vergangenen Monate weit übersteigt. Nur dank der gesunkenen Mineralölpreise gab die Teuerungsrate für die Lebenshaltung im Oktober auf 1,2 Prozent nach, wie das Statistische Bundesamt Anfang vergangener Woche berichtete.
Angesichts des Teuerungsschubs im Supermarkt dürften die meisten Bürger die Diskussion, die derzeit unter Ökonomen tobt, verwundert zur Kenntnis nehmen. Denn die Experten streiten darüber, ob Europa auf eine Deflation, also eine längere Phase sinkender Preise, zusteuert. Anlass dafür ist, dass die Teuerungsrate in der Euro-Zone im Oktober unerwartet kräftig von 1,1 auf 0,7 Prozent gefallen ist.
Als die Europäische Zentralbank (EZB) – sie strebt eine Preissteigerung von knapp unter zwei Prozent an – wenige Tage nach der Bekanntgabe der Miniteuerungsrate sogleich die Leitzinsen herunterschraubte, war die Deflationsdebatte nicht mehr zu stoppen. Für zusätzliche Verwirrung sorgte EZB-Chef Mario Draghi, als er auf Rückfragen erklärte, er könne für Europa keine Deflation erkennen, „wenn man darunter einen sich selbst
erfüllenden Verfall der Preise für eine sehr breite Kategorie von Gütern und über eine breite Zahl von Ländern versteht“.
Was also ist dran an dem Szenario einer Deflation, und welche Folgen hätte es, wenn das Preisniveau tatsächlich sänke?
Bis vor Kurzem noch warnten Ökonomen besorgte Anleger und Sparer vor einer großen Inflation. Die milliardenschweren Liquiditätsspritzen, mit denen die wichtigsten Notenbanken das Weltfinanzsystem seit Jahren stützen, würden sich bald in die Gütermärkte ergießen und die Preise nach oben treiben, hieß es. Tatsächlich hat die US-Notenbank Fed ihre Bilanzsumme durch den Ankauf von Wertpapieren und die damit verbundene Ausgabe von Zentralbankgeld seit der Lehman-Pleite fast vervierfacht. Die Bilanzsumme der EZB hat sich im gleichen Zeitraum verdoppelt, auch wenn sie zuletzt leicht rückläufig war.
Vergabe neuer Kredite stockt
Von der angekündigten großen Inflation ist jedoch bis dato nichts zu sehen. Manche Mahner von einst haben daher eine 180-Grad-Wende vollzogen. „Inflation gibt es nur noch in den Geschichtsbüchern“, sagt Thomas Straubhaar, Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI). Vor einigen Jahren hatte der Hamburger Ökonom noch vor Inflationsraten über fünf Prozent gewarnt. „Die EZB alleine kann nicht Inflation erzeugen“, sagt Straubhaar nun. Erst wenn die Geschäftsbanken das Geld der Zentralbank nutzen, um damit Kredite zu vergeben, komme der Stein ins Rollen. „Dann kann Inflation entstehen“, so Straubhaar.
Derzeit ist eine neue Kreditbonanza aber nicht zu erkennen. Vor allem die Banken in den Krisenländern der Euro-Zone halten sich mit der Vergabe neuer Kredite zurück. Im September lagen die Ausleihungen an private Haushalte und Unternehmen um rund zwei Prozent unter Vorjahr. Die für die Preisentwicklung relevante Geldmenge M3 (sie umfasst Bargeld, Sichteinlagen, Termineinlagen, Anteile an Geldmarktfonds sowie Bankschuldverschreibungen) kommt nicht in Schwung. Im September legte sie nur um 2,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu. Vielen Banken mangelt es an Eigenkapital, mit dem sie Kredite unterlegen müssen. Zudem fragen die Bürger und Unternehmen in den Südländern wegen ihrer noch immer hohen Schulden und der schwachen Konjunktur kaum Kredite nach. „In Südeuropa ist der Sicherheitspuffer gegen eine Deflation gefährlich dünn geworden“, warnt daher Straubhaar.
Wofür die Deutschen bei der Euro-Rettung haften
Hierfür haften die Deutschen mit 15 Milliarden Euro.
Falls Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Italien und Zypern ausfallen beträgt die Haftungssumme der Deutschen 80 Milliarden Euro.
Die Haftung beträgt insgesamt 10 Milliarden Euro.
Die Haftungszusagen für den ESM belaufen sich auf 190 Milliarden Euro.
Allein das erste Rettungspaket für die Griechen schlägt mit 15 Milliarden zu Buche.
Deutschlands Haftungssumme für die Käufe von Staatsanleihen durch die EZB umfasst 57 Milliarden Euro.
Der größte Haftungsbetrag von 408 Milliarden Euro wird fällig, falls es zu einem Zahlungsausfall kommen sollte und die Krisenländer aus dem Euro austreten.
Tatsächlich sanken die Lebenshaltungspreise in Spanien im Oktober zum Vorjahr um 0,1 Prozent, in Griechenland gingen die Preise sogar um zwei Prozent zurück. Doch was auf den ersten Blick nach Deflation riecht, entpuppt sich bei genauer Betrachtung als eine heilsame Korrektur. Denn hinter dem Absacken der Teuerungsrate stecken neben den gefallenen Preisen für Energie insbesondere die gesunkenen Lohnstückkosten in vielen Krisenländern. Seit dem Ausbruch der Staatsschuldenkrise haben die Peripheriestaaten mit Ausnahme Italiens ihre Lohnstückkosten nach Berechnungen der Commerzbank um insgesamt acht Prozent gesenkt. Das habe den Unternehmen Spielraum verschafft, die Preise zu senken, nachdem diese in den Jahren vor Ausbruch der Staatsschuldenkrise zu stark gestiegen waren, sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. „Die Rückgewinnung preislicher Wettbewerbsfähigkeit hat nichts mit Deflation zu tun und ist uneingeschränkt zu begrüßen“, urteilt Krämer.
Deflation und Depression geht nicht einher
Ohnehin ist die Dämonisierung der Deflation, wie sie von keynesianischen Ökonomen betrieben wird, ökonomisch nicht zu rechtfertigen. „In einer Marktwirtschaft werden Fehlentwicklungen durch Anpassungen der Preise korrigiert, dazu gehören auch Preissenkungen auf breiter Front, wenn die Preise zuvor zu stark gestiegen sind“, sagt Stefan Kooths, Ökonom am Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW). Eine Deflation sei daher „nicht der Untergang des Abendlandes“.
Das zeigt das Beispiel Japan. Seit Ende der Neunzigerjahre sind die Verbraucherpreise dort im Schnitt um 0,5 Prozent pro Jahr gesunken. Anders als oft behauptet hat es keine deflationäre Abwärtsspirale gegeben. Statt wegen der sinkenden Preise den Kauf von Gütern aufzuschieben und so die Preise weiter unter Druck zu setzen, strömten die Japaner in die Shoppingmalls. Die Sparquote der privaten Haushalte sank von sieben Prozent im Jahr 2000 auf drei Prozent im Jahr 2011.
Zudem erwiesen sich die Sorgen vor einer steilen Kletterpartie der Realzinsen im Gefolge der Deflation als unbegründet. So lagen die Realzinsen in Japan zwischen 2000 und 2012 bei rund 1,6 Prozent – deutlich niedriger als in anderen Industrieländern (Deutschland: zwei Prozent). Die Gewinne der japanischen Unternehmen stiegen in dieser Zeit trotz rückläufiger Preise. Denn die Arbeitsmarktreformen Ende der Neunzigerjahre hatten die Löhne flexibler gemacht. Sie sanken sogar stärker als die Preise, sodass die Unternehmensgewinne in Relation zum Volkseinkommen zulegten.
Ein verlorenes Jahrzehnt hat es daher für Japan durch die Deflation nicht gegeben. Im Gegenteil: Von 2000 bis 2007 wuchs Nippons Wirtschaft um rund zehn Prozent – ähnlich kräftig wie die deutsche Wirtschaft. Beim Pro-Kopf-Einkommen ließen die Japaner sogar Frankreich hinter sich.
Dass Deflation – anders als von Nachfrageökonomen gerne behauptet – in der Regel nicht mit schweren Wirtschaftskrisen einhergeht, zeigt eine Studie der Federal Reserve Bank von Minneapolis. Die Ökonomen Andrew Atkeson und Patrick Kehoe haben für 17 Länder über einen Zeitraum von mehr als 180 Jahren untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen Deflation und Depression gibt. Sie fanden 73 Deflationsphasen, von denen jedoch 65 ohne Depression verliefen. Nur für die Weltwirtschaftskrise Anfang der Dreißigerjahre stellten sie einen signifikant negativen Einfluss der Deflation auf das Wirtschaftswachstum fest. „Insgesamt“, so urteilen die Forscher, „gab es viel mehr Deflationen, die mit kräftigem Wachstum statt mit einer schrumpfenden Wirtschaft verbunden waren.“ Und: „Depressionen sind häufiger mit Inflation statt mit Deflation verbunden.“ Dabei fanden die meisten deflationären Wachstumsphasen unter dem Währungsregime des Goldstandards statt.
Kein Ende der Schuldenspirale
Damit bestätigen die US-Forscher den deutschen Ökonomen Arthur Salz, der 1932 im „Deutschen Volkswirt“, dem Vorgänger der WirtschaftsWoche, schrieb: „Die Wirtschaftsgeschichte lehrt, dass stärkster wirtschaftlicher Verfall in Zeiten steigender Preise fällt und dass wirtschaftliche Blütezeiten gerade durch sinkende Preise charakterisiert sind.“
Warum aber fürchten Zentralbanken und Regierungen dann die Deflation wie der Teufel das Weihwasser und setzen alles daran, dass die Preise weiter steigen?
Der Grund sind die hohen Schulden, die Staaten, Banken, Unternehmen und private Haushalte in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten aufgetürmt haben. Die Ausweitung des Sozialstaats, umfangreiche keynesianische Konjunkturprogramme und jüngst die milliardenschweren Bankenrettungen haben inden Industrieländern staatliche Schuldenberge aufgetürmt, die größer sind als die Wirtschaftsleistung eines gesamten Jahres. Ein Ende der Schuldenspirale ist nicht in Sicht.
Die Folgen der EZB-Niedrigzinspolitik
Werden die Zinsen künstlich abgesenkt, so verringert sich der Reformdruck auf Regierungen und Banken, ihre Haushalte beziehungsweise Bilanzen zu verbessern.
Ein künstlich tief gehaltener Zins verhindert, dass unprofitable Investitionsprojekte also Fehlinvestitionen aufrecht und befördert werden.
Künstlich tiefe Zinsen lösen (inflationäre) Spekulationswellen aus, führen zu „Boom-and-Bust“-Zyklen: überhitzte Situationen, in denen, wenn niemand mehr bereit ist, Kredite zu finanzieren, alles in sich zusammenbricht.
Künstlich niedrig gehaltene Zinsen befördern die Schuldenwirtschaft, insbesondere die der Staaten und der Bankenindustrie.
Dass es überhaupt dazu kommen konnte, ist eine Folge des Papiergeldsystems, das sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durchgesetzt hat. Anders als im Goldstandard, in dem die Geldmenge an das Edelmetall gebunden war, können die staatlichen Zentralbanken zusammen mit den Geschäftsbanken im Papiergeldsystem Kredite und Geld aus dem Nichts schaffen. Für die Regierungen ist das eine Art Freibrief, die Staatsausgaben hemmungslos auszuweiten und durch neue Schulden zu finanzieren. Daher ist ihr Interesse groß an einer Inflation, die den riesigen Schuldenberg schleichend entwertet.
Käme es hingegen zu einer starken Deflation, würde auch das nominale Bruttoinlandsprodukt nach unten gedrückt. Der Schuldenstand in Relation zur Wirtschaftsleistung schösse dann nach oben. Dazu kommt, dass mit den Preisen die Umsätze der Firmen schrumpften, auf die der Fiskus Steuern erhebt. Zudem ließen sinkende Löhne die Einkommensteuerzahlungen erodieren. In den öffentlichen Kassen klafften dadurch immer größere Löcher, der Schuldenberg schwellte weiter an. Den Regierungen fiele es zunehmend schwer, Kreditgeber zu finden. Denn die steigende Kaufkraft des Geldes veranlasste die Sparer, ihr Geld zu Hause zu horten, statt es in Staatsanleihen zu stecken. Die Folge wären Staatsbankrotte und Bankenpleiten.
Kein Weg an massiver Korrektur vorbei
„Regierungen und Banken wären die großen Verlierer einer Deflation, die sogenannten Eliten, die vom Papiergeldstandard profitieren, würden entmachtet“, sagt Thorsten Polleit, Chefökonom von Degussa Goldhandel. Die staatlichen Zentralbanken werden daher alles tun, um eine Deflation zu verhindern. So wie die Bank von Japan, die angesichts der Überschuldung des Staates die Notenpresse angeworfen hat, um die Wirtschaft zu reinflationieren. Auch EZB-Chef Draghi werde nachlegen, glaubt Polleit. „Die EZB wird den Zins weiter Richtung null Prozent drücken und danach Staatsanleihen kaufen“, prophezeit er. Die Äußerungen von EZB-Chefökonom Peter Praet in der vergangenen Woche deuten bereits in diese Richtung.
Auslöser für eine neue Geldschwemme in Europa könnte die US-Notenbank Fed sein. Fährt sie ihre Anleihekäufe wie angekündigt zurück, dürften höhere Zinsen in den USA Kapital aus Europa anlocken. Das triebe die Zinsen auch hierzulande in die Höhe. Die Hoffnungen auf eine bessere Konjunktur und solidere Staatshaushalte in den Krisenländern wären dann Makulatur. Das dürfte die EZB auf den Plan rufen. Niedrigere Zinsen und weitere Liquiditätsspritzen für die Banken aber werden die Preisblasen weiter aufpumpen – erst an den Börsen, später auch am Gütermarkt.
Doch die Reinflationierung, die die Zentralbanken betreiben, legt die Saat für eine noch viel größere Krise. „Man kann die marktwirtschaftliche Bereinigung des Kreditbooms der vergangenen Jahre durch niedrigere Zinsen und das Drucken von neuem Geld allenfalls aufschieben, aber nicht verhindern“, sagt Polleit. Mittelfristig führe kein Weg an einer massiven Korrektur vorbei, die mit Schuldenschnitten und Deflation verbunden ist. „Je länger man diesen Prozess aufschiebt, desto zerstörerischer wird seine Wirkung“, sagt Polleit.
Ähnliches fürchtet IfW-Ökonom Kooths. „Der Versuch, durch Gelddrucken und Bankenrettung die Gläubiger vor Schuldenschnitten und Deflation zu schützen, untergräbt das marktwirtschaftliche Haftungsprinzip“, so Kooths. Damit aber legen Zentralbanken und Regierungen die Axt an die Wurzeln des Wohlstands.