Wie umfassend, ja: total die Politisierung der EZB ist, zeigt sich an der königlichen Knechtschaft, mit der die Notenbanker heute in Europa zugleich herrschen und gehorchen, an der Ununterscheidbarkeit ihrer Freiheit und Hörigkeit. Die EZB ist grenzenlos mächtig, weil sich die Politik eine selbst verantwortete Lösung der Schuldenkrise – Rückkehr zu nationalen Währungen, Schuldenschnitt, Gläubigerhaftung, Tilgungsfonds – nicht zugetraut und stattdessen das Kollegium der Währungshüter zu einer Art Notstandsregierung aufgewertet hat. Und die EZB ist grenzenlos ohnmächtig zugleich, weil sie sich mit der Übernahme finanzpolitischer Aufgaben zum Erfüllungsgehilfen einer feigen Politik erniedrigt.
Schlimmer noch: Die EZB hat nicht nur ihre Unabhängigkeit von der Politik eingebüßt; auch die Unabhängigkeit selbst ist (ihr) zum Problem geworden. Als Hüter der Geldwertstabilität war sie ein Eckpfeiler im demokratischen System der checks and balances, eine unbestechliche Institution, die nicht trotz, sondern wegen ihrer Politikferne das Vertrauen der Bürger genoss. Als Durchführungsagentur der Regierenden zur Herstellung einer europäischen Haftungsunion hingegen ist sie ein bürokratisches Expertengremium, dessen Demokratiedefizit eine Bedrohung darstellt.
Die Rolle der EZB nach dem Maastricht-Vertrag
Artikel 104 (1) Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten bei der EZB oder den Zentralbanken der Mitgliedstaaten (...) für Organe oder Einrichtungen der Gemeinschaft, Zentralregierungen, regionale oder lokale Gebietskörperschaften oder andere öffentlich-rechtliche Körperschaften, sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentliche Unternehmen der Mitgliedstaaten sind ebenso verboten wie der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln von diesen durch die EZB oder die nationalen Zentralbanken.
Artikel 104 b (1) Die Gemeinschaft haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen von Mitgliedstaaten und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein. (...)
Artikel 107 Bei der Wahrnehmung der ihnen durch diesen Vertrag und die Satzung des ESZB übertragenen Befugnisse, Aufgaben und Pflichten darf weder die EZB noch eine nationale Zentralbank, noch ein Mitglied ihrer Beschlussorgane Weisungen von Organen oder Einrichtungen der Gemeinschaft, Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen einholen oder entgegennehmen.
Artikel 105 (1) Das vorrangige Ziel des ESZB (Europäisches System der Zentralbanken, d. Red.) ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft, um zur Verwirklichung der in Artikel 2 festgelegten Ziele der Gemeinschaft beizutragen.
Hat man den semantischen Schwenk erst einmal vollzogen, ist die „Unabhängigkeit“ der Zentralbanken kein schützenswertes Gut mehr, sondern eine Beute der Politik – und die tradierte Erzählung von der geldpolitischen Autorität der Notenbanker kann spielend umgedeutet werden zum Ammenmärchen von der Anmaßung elitärer Zinsakrobaten, die der demokratischen, sprich: politischen Kontrolle bedürfen. So gesehen, hat die Politik die unabhängig-abhängige EZB gleich zweifach gekapert: funktionell und ideell. Sie nimmt die Passiva staatlicher Kreditexpansionen und verfehlter Defizitziele in ihre Bücher auf, darf zur Belohnung gegen die ihr ursprünglich zugedachte Bestimmung verstoßen, die Stabilität der Währung zu garantieren – und muss der Politik auch noch dankbar dafür sein, dass sie für die Verletzung ihres Mandats mit einem Machtzuwachs bedacht wird, der ihr Ansehen beschädigt.
Dass Jens Weidmann das als Beschädigung seines Amtes, ja: als Verhöhnung seines beruflichen Selbstverständnisses empfindet, kann man ihm kaum verdenken. Der Bundesbank-Chef hat vor einigen Wochen mit großem medialem Aufwand eine rote Linie markiert („keine Staatsfinanzierung durch die EZB“), ganz so, wie auch Angela Merkel („keine Euro-Bonds, solange ich lebe“) es getan hat – mit dem Unterschied, dass Weidmann seine Linie überschreiten musste, um Merkel eine Blamage zu ersparen. Auch beim Thema der Bankenaufsicht, die die EU der EZB anvertrauen will, meldet Weidmann nun Bedenken an: Der Zielkonflikt zwischen der Aufgabe, für Preisstabilität zu sorgen, und der Aufgabe, notfalls darüber zu befinden, ob ein Geldinstitut in die Insolvenz entlassen wird oder nicht, ist unaufhebbar. Rettungspolitik ist immer Konjunktur- und Billiggeld-, sprich: Marktverzerrungspolitik. Eine organisatorische Trennung der beiden Aufgaben unter dem Dach der EZB wiederum ist keine Gewähr für eine „unabhängige“ Geldpolitik, wie uns die europäischen Finanzminister glauben machen wollen, im Gegenteil, sie treibt die Politisierung der EZB auf die dialektische Spitze: Die nominelle Unabhängigkeit der EZB dient der Politik künftig als Vorwand und Vehikel, um sie endgültig ihrer parlamentarischen Kontrolle zu unterwerfen.
Jens Weidmann scheint sich damit in die Ahnengalerie gedemütigter Bundesbank-Chefs einzureihen, die sich zwar tapfer gegen eine angeblich alternativlose Politik stemmen, am Ende aber nur die Wahl haben zwischen Rücktritt und Resignation. Vier Beispiele: Im Februar 1990 setzt Helmut Kohl gegen den Widerstand von Karl Otto Pöhl („sehr phantastisch“) seine Forderung nach einer einheitlichen deutschen Währung und einem Umtauschkurs zur Ostmark von 1:1 durch. Im September 1992 unterwirft sich Helmut Schlesinger dem politischen Diktat, die Währungsparität von Mark und Franc als Basis des späteren Euro für unverbrüchlich zu er- » » klären. In den späten Neunzigerjahren winkt Hans Tietmeyer die Abschaffung der D-Mark durch – ganz so, wie es die Abgeordneten aller Parteien im Bundestag beschlossen hatten. Und im April 2011 streicht Axel Weber die Segel, weil er, wie Weidmann heute, die politische Vergiftung der Geldpolitik nicht mittragen will.