




Im Glanz strahlt Europa derzeit wahrlich nicht: In Spanien und Griechenland erreicht die Arbeitslosigkeit immer neue Rekordstände, Italien wählt mit Beppo Grillo und Silvio Berlusconi zwei Politiker, die diesen Titel nicht wirklich verdienen – und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán demontiert die Demokratie in seinem Lande. Der luxemburgische Premier und ehemalige Chef der Eurogruppe Jean-Claude Juncker schlägt nun Alarm. „Wer glaubt, dass sich die ewige Frage von Krieg und Frieden in Europa nie mehr stellt, könnte sich gewaltig irren“, sagt der 58-Jährige im Interview mit dem „Spiegel“. „Die Dämonen sind nicht weg, sie schlafen nur.“ Juncker sehe Parallelen zum Jahr 1913 – dem Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Bei allem Respekt: Der Vergleich ist unsinnig und gefährlich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts strotzten das Deutsche Reich, Frankreich, Großbritannien, aber auch Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich vor Narzissmus, Selbstherrlichkeit und Großmachtsphantasien. Im Wettlauf um Kolonien und Territorien wurden Flotten und Armeen aufgebaut und hochgerüstet, die Bevölkerung jubelte, als etwa in Deutschland Kaiser Wilhelm II. den Krieg ausrief.
Zukunftsszenarien für Griechenland
Die Eurogruppe billigt einen Schuldenschnitt, die Banken erlassen dem Land daraufhin 100 Milliarden Euro. Somit gibt es auch grünes Licht für weitere Hilfen der Eurozone in Höhe von insgesamt 130 Milliarden Euro. Die Europäische Zentralbank (EZB) füllt eine Finanzlücke, damit Griechenlands Schuldenstand bis 2020 wie angepeilt sinken kann. Im Gegenzug unterwirft sich Griechenland einer strikten Überwachung der EU und gibt Kompetenzen in der Haushaltspolitik ab. Das Land leidet noch jahrelang unter Einsparungen, innenpolitischer Unruhe und Rückschlägen. Der Weg zu einer Erholung ist lang und mühsam.
Die Eurozone will zunächst keine weitere Hilfe zusagen. Problem ist der für 2020 trotz Hilfspaket und Gläubigerverzicht erwartete Schuldenstand von 129 Prozent der Wirtschaftskraft, anstatt der angestrebten 120 Prozent. Der Rettungsplan muss also überdacht werden. Zudem wählen die Griechen im April. Die Euro-Länder wollen das Votum abwarten und mit den dann regierenden Parteien Vereinbarungen über Einsparungen und Reformen treffen, bevor sie weiteres Geld überweisen. Mit restlichen Mitteln aus dem ersten Hilfsprogramm wird ein im März drohender Bankrott vorerst verhindert.
Nach zwei Jahren Schuldenkrise nimmt die Eurozone einen Kurswechsel vor: Griechenland soll kontrolliert in die Pleite geführt werden, jedoch in der Eurozone bleiben. Nun kommen Milliardenkosten nicht nur auf die privaten Gläubiger, sondern auch auf die EZB zu: Athen ändert per Gesetzesänderung die Haftungsklauseln für seine Staatsanleihen - und erzwingt einen Verzicht. Die EU arbeitet an einem finanziellen und wirtschaftlichen Neustart des Landes, der ebenfalls viel Geld kostet.
Der Rettungsplan scheitert, die Griechen haben zudem Vorschriften und Kontrolle der Euro-Länder satt. Das Land erklärt seinen Bankrott und die Rückkehr zur Drachme. Wirtschaft und Finanzbranche werden über das Land hinaus erschüttert, Firmen und Banken gehen pleite. Die Kaufkraft der Griechen nimmt massiv ab, soziale Unruhen sind die Folge. Mit der Drachme sind griechische Produkte auf dem Weltmarkt zwar billiger, ein positiver Effekt auf die marode Wirtschaft zeigt sich jedoch nur sehr langsam. Die Europäische Union bemüht sich mit Konjunkturprogrammen, den weiteren Absturz des Landes zu mildern.
Mögen in Griechenland oder in Italien zuweilen auch Protestplakate mit Nazi-Symbolen geschwenkt werden, so kann keiner ernsthaft von einer Kriegsgefahr in Europa sprechen. Populisten und Aggressoren sind Randerscheinungen – selbst im tief in der Krise steckenden Griechenland. Dort hat die rechtsextreme „Partei der Morgenröte“ trotz allerhand Bemühungen (Armenspeisung vor dem Parlament) und Einschüchterungen Andersdenkender nur sieben Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr gewonnen. In Italien bekam der Kabarettist und Anti-Parteien-Politiker Beppe Grillo ein Viertel der Stimmen. Die rechtspopulistische „Lega Nord“ wurde gleichzeitig abgestraft und hat viele ihrer Wähler verloren. In Deutschland sitzt die rechtsextreme NPD nur noch in zwei Landesparlamenten.
Das Gerede von einer „Kriegsgefahr in Europa“ ist genauso falsch wie Prognosen, die Europäische Union werde sterben. Ob es den Kritikern gefällt oder nicht: Die Staatengemeinschaft ist irreversibel. Natürlich brauchen die EU-Institutionen Reformen oder gar eine Neuordnung. Der übermäßige Apparat in Brüssel muss abgebaut werden, das Subsidiaritätsprinzip (was lokal entschieden werden kann, muss lokal entschieden werden) ernstgenommen werden. Europa muss sich – etwa im Sinne David Camerons – neu erfinden und den Fokus auf Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Deregulierung richten.
Unsinnige Vergleiche, Zuspitzungen und Parolen aber helfen nicht weiter, die Europäische Union zu verschlanken und neu zu gliedern. Im Gegenteil: Sie führen nur dazu, dass die EU und ihre Spitzenpolitiker an Glaubwürdigkeit verlieren und die populistische Kräften an Zustimmung gewinnen. So gesehen ist Junckers Äußerung nicht nur falsch, sondern auch gefährlich.