Doch wie Trump nimmt Tajani es mit Fakten nicht so genau. Der Informant hatte über 300 Wörter lang Manipulationen von Autoherstellern bei Emissionen beschrieben. In gerade mal zwei Sätzen sprach er das Thema Reifendrucksensoren an. Und zwar als „klares Beispiel“ für Manipulationen bei Zulassungstests.
Was Tajani bei seinem Versuch, sich mit dem Verweis auf das Reifenthema aus der Affäre zu stehlen, verschweigt: Der Reifendruck steht in direktem Zusammenhang mit Emissionen. Autos, die mit zu geringem Reifendruck unterwegs sind, weil die Sensoren einen Druckverlust nicht zuverlässig anzeigen, verbrauchen mehr Sprit. Deshalb sicherte die EU Autobauern mehr Spielraum bei Grenzwerten zu, wenn sie Autos mit Reifendrucksensoren ausstatten.
Außerdem: Bei etwa jedem zweiten Autounfall, der wegen technischer Mängel passiert, sind platte Reifen schuld. Reifendrucksensoren können solche Unfälle verhindern. Allein aus Sicherheitsgründen hätten die Schilderungen des Whistleblowers den damaligen Industriekommissar alarmieren müssen. Der aber ließ die Dinge laufen.
Tajani spielte das Unschuldslamm
Erst im November 2016 offenbarte ein Test der europäischen Umweltorganisation Transport & Environment (T&E), dass Reifendrucksensoren bei Volkswagen und Fiat oft nur in Zulassungstests funktionieren, in fast allen getesteten Alltagssituationen dagegen versagten sie. Offenbar gibt es neben dem Dieselskandal auch einen ganz ähnlich gelagerten Reifenskandal – und beides war Tajani schon 2012 bekannt.
Das hielt den Forza-Italia-Mann aber nicht davon ab, im Dieselgate-Untersuchungsausschuss des Europaparlaments das Unschuldslamm zu geben: „Ich wurde niemals über betrügerische Technik oder Strategien, mit denen Autohersteller Emissionswerte manipulieren, informiert“, gab er zu Protokoll. Ausschussmitglieder nehmen ihm das nicht ab. „Mir ist absolut unverständlich, warum Tajani keine Untersuchungen in Auftrag gegeben hat“, sagt der sozialdemokratische Abgeordnete Ismail Ertug.
Kann ein so belasteter Mann wirklich Präsident des Europäischen Parlaments werden? Selbst Herbert Reul, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Parlament, ist sich nicht mehr sicher, er beziffert Tajanis Chance nur auf 50 Prozent. Freilich bietet sich dem noch ein Ausweg an. Im vierten Wahlgang, wenn die einfache Mehrheit genügt, könnten die Stimmen von Extremisten und Europafeinden wie Marine Le Pen oder Nigel Farage den Italiener ins Amt hieven. Ein Präsident von deren Gnaden? Ausgerechnet in einem Jahr, in dem voraussichtlich in den fünf größten Ländern der Euro-Zone gewählt wird und Populisten und Extremisten überall auf Stimmenzuwachs hoffen?
EVP-Fraktionschef Weber betont zwar, seine Gruppierung werde keine Stimmen von Radikalen akzeptieren. Doch das Versprechen ist leicht dahingesagt. Denn die Abstimmung ist geheim – wer für wen gestimmt hat, wird am Ende niemand wissen.