Weder Ort noch Zeit waren zufällig gewählt, als Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron am Dienstagnachmittag seine Ideen für eine Erneuerung der Europäischen Union vorstellte. Er hielt seine Rede vor Studierenden, weil er ein Europa für die jungen Menschen von heute schmieden will. Er sprach im Großen Amphitheater der ehrwürdigen Pariser Universität Sorbonne, wo sich fast auf den Tag genau 25 Jahre zuvor - am 3. September 1992 - der damalige französische Staatschef François Mitterrand und Philippe Seguin, der Wortführer des „Nein“-Lagers eine leidenschaftliche Debatte über das Referendum zu den Maastricht-Verträgen geliefert hatten. Und Macron wählte mit Bedacht Tag zwei nach der Bundestagswahl in Deutschland. Er will damit, wenngleich indirekt, mit am Tisch der Berliner Koalitionsverhandlungen sitzen.
Vor allem Letzteres ist bemerkenswert. Abgeordnete aus Paris und Berlin haben zwar in den vergangenen Jahren häufig an Parlamentssitzungen im jeweils anderen Land teilgenommen. Französische Präsidenten und deutsche Kanzler werden als Gespann wahr genommen - und zuweilen auch misstrauisch beäugt - ohne das in Europa nichts vorwärts geht. Doch dass ein französischer Staatsmann versucht, am Koalitionsvertrag mitzuschreiben, das ist neu und durchaus wagemutig.
Vom Elysée-Präsidentenpalast aus betrachtet, wo Macron selbst an seiner Rede feilte, gab es jedoch keine bessere Gelegenheit. „In den deutsch-französischen Beziehungen hat sich ein neues Fenster geöffnet, das sich nun nicht schließen darf,“ heißt es aus dem Umfeld des Präsidenten. „Wenn wir das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen abwarten würden, wäre es zu spät um unsere Vorschläge darzulegen.“
Nicht wenige von Macrons Berater hatten am Sonntag vor den Bildschirmen gesessen und gebannt die Ergebnisse der Wahl sowie die Einlassungen der Spitzenkandidaten verfolgt. Es braucht nur wenig Fantasie, um sich vorzustellen, dass das schlechteste Ergebnis der SPD in der Geschichte der Bundesrepublik, der angekündigte Rückzug der Sozialdemokraten in die Opposition und die Aussicht auf eine Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen so manchem mindestens einen Seufzer der Enttäuschung entlockt haben dürften. Mit einer starken SPD in einer Neuauflage der Großen Koalition hätte Macron die von ihm angestrebte Vertiefung der EU mit einem Finanzminister und einem Budget für die Euro-Zone leichter umsetzen können. Die „rote Linie“, die FDP-Chef Christian Lindner noch am Sonntagabend beim Thema möglicher Transferzahlungen Deutschlands an andere EU-Länder zog, macht es dem französischen Präsidenten dagegen schwer.
„Für Europa im allgemeinen und das Frankreich von Emmanuel Macron im Besonderen, sind diese Wahlen eine schlechte Nachricht,“ kommentierte deshalb die Tageszeitung „Le Monde“ das Ergebnis. „Zunächst weil Deutschland in einem langen Tunnel von Verhandlungen verschwindet, aus dem es zweifellos erst nach mehreren Monaten heraus kommt. Überdies ist es wahrscheinlich, dass die Deutschen sich am Ende dieser Verhandlungen zu Lasten der anderen Europäer verständigen.“ Bereits in den Tagen vor der Wahl hatte das Blatt eine im Kreis seiner Vertrauten gemachte Bemerkung Macrons kolportiert, die die Stimmung im Elysée widerspiegelt: „Wenn sie (die Kanzlerin) mit den Liberalen zusammengeht, dann bin ich erledigt.“
Es war deshalb keine Überraschung, dass Macron am Dienstagnachmittag die potenziellen Streitpunkte Finanzminister und Euro-Budget nur streifte und auch erst nach rund einer Stunde Redezeit als letzten seiner insgesamt sechs Kernvorschläge für ein künftiges Europa nannte. Mit einem kleinen Hieb gegen die FDP allerdings: „Ich habe keine roten Linien, nur Horizonte,“ sagte er.
Pläydoyer für europäisches Amt für Asyl
Die Wirtschaftsunion sei das Herz eines integrierten Europas, unterstrich der französische Präsident. Jedes Land habe sich selbstverständlich zunächst seiner eigenen Verantwortung zu stellen. Deshalb habe Frankreich bereits kurz nach seiner Wahl im Mai wichtige Reformen eingeleitet. „Wir haben allerdings in den vergangenen zehn Jahren viel über Verantwortung gesprochen und darüber die Solidarität vergessen,“ mahnte er. Deshalb brauche es neben einem gemeinsamen Budget, das Ländern in Krisen helfen könne, bis 2020 auch eine Verständigung über einheitliche Unternehmenssteuern und Sozialabgaben.
„Man kann nicht einerseits von Europa profitieren und sich andererseits untereinander ausspielen,“ sagte Macron mit Blick etwa auf das in Frankreich große Streitthema entsendeter Arbeitskräfte, für die niedrigere Sozialbeiträge in deren Heimatländern gelten. Oder auch für Länder, die den Wettbewerb mit niedrigen Unternehmenssteuern verzerrten. Bereits ab diesem November wolle er eine Diskussion über einen europäischen Sockel für Sozialbeiträge anstoßen. Macron trat am Dienstag aber bedeutend diplomatischer und gewinnender auf als etwa zuletzt während einer Osteuropa-Reise, wo er Polen öffentlich heftig kritisiert hatte.
Zuvor hatte der französische Präsident ausführlich an die Verdienste früherer Staatslenker erinnert, die die Europäische Union nach zwei Weltkriegen ermöglicht hatten - und davor gewarnt, das Erreichte den scheinbar einfachen Lösungen der Populisten preis zu geben. Außerdem zeichnete er die EU als Gemeinschaft, in dem das Bedürfnis der Bürger nach Sicherheit, einer gesunden Umwelt und Verbraucherschutz am besten gewährleistet werden könnten.
Deshalb plädierte er zum Beispiel für nationale Armeen, die auch Soldaten anderer Länder aufnehmen könnten sowie grenzüberschreitende zivile Einsatztruppen bei Naturkatastrophen. Die Migrationskrise, die „eine Herausforderung auf lange Zeit“ bleiben werde, könne Europa ebenfalls nur gemeinschaftlich meistern. Durch eine Partnerschaft mit Afrika und Hilfen für die aufnehmenden Länder einerseits, aber ab nächstem Jahr auch mit einem europäischen Amt für Asyl und einheitlichen Asylverfahren.
Europa solle außerdem bei der Energiewende voranschreiten, einen „gerechten Preis“ für CO2-Emissionen festlegen und an seinen Grenzen eine CO2-Steuer für Konkurrenzunternehmen von außerhalb verlangen. Nur eine neue EU-Agrarpolitik, die den Landwirten ein würdevolles Auskommen ermöglicht, kann seiner Meinung nach das geschädigte Vertrauen der Verbraucher in Lebensmittel wieder herstellen. Skandale wie zuletzt im Fall der mit Insektengift verunreinigten Eier müssten scharf bestraft werden.
Der Präsident sprach sich außerdem dafür aus, die Digitalisierung finanziell zu unterstützen und eine europäische Agentur für bahnbrechende Innovationen zu gründen. Europäer sollten sich nicht darüber beklagen, dass die Internet-Größen heute in den USA säßen, sondern die Entwicklung eigener Champions ermöglichen. Mit Blick auf Google, Amazon, Facebook und andere US-Konzerne, die in Europa Steuervermeidung betrieben, forderte er die Erhebung von Steuern dort, wo Mehrwert geschaffen werde.
„Man kann nicht bei allen Themen gleich schnell Ergebnisse erzielen,“ räumen Macrons Berater ein. Es sei auch nicht dramatisch, wenn nicht alle EU-Mitglieder überall sofort mit an Bord seien. Die Abkommen über den Euro und den Schengenraum hätten gezeigt, dass ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten nicht zur Spaltung führe. Wichtig sei es aber, einen Weg für die nächsten Jahre darzulegen. Nach dem Willen des französischen Präsidenten sollen offene Diskussionen mit Bürgern an die Stelle von Gremien treten, die „Texte im Geheimen“ verfassen. „Dann werden die Leute selbst darauf kommen, dass die EU sie besser schützt als manch absurde nationale Politik.“ Auf die Wahlen zum Europaparlament 2019 müsse ein „Mandat des Wandels“ folgen. Damit 2024 in den EU-Mitgliedsländern wieder mit Stolz die EU-Flagge gehisst werde.