




Mit Kritik an der türkischen Regierung ist man in der Europäischen Kommission derzeit eher geizig. Der Krawall-Rhetorik Erdoğans und seinen dauernden Drohungen, das Flüchtlingsabkommen mit der Europäischen Union einseitig zu kündigen, stehe die Tatsache gegenüber, dass die Türkei ihre Verpflichtungen erfülle. Die Umsetzung des Abkommens, so das Fazit fast ein Jahr nach Inkrafttreten am 4. April 2016, laufe einwandfrei, heißt es aus der Kommission.
Dieses Abkommen, das vor allem auf Betreiben der Bundeskanzlerin persönlich zustande kam, wird von dieser nach wie vor als entscheidende Lösung der Flüchtlingskrise dargestellt. Kritiker dagegen klagen, dass die Europäische Union und als Hauptzielland vor allem Deutschland sich dadurch in eine fatale Abhängigkeit vom Wohlwollen des Regimes in Ankara begeben hätten. Die Zahlen, die die Europäische Kommission selbst kürzlich veröffentlicht hat, legen nahe, dass beide Sichtweisen nicht zutreffend sind.
Erdoğan selbst und Regierungsmitglieder hatten tatsächlich wiederholt damit gedroht, das Abkommen auszusetzen, so dass wieder Hunderttausende Flüchtlinge oder Einwanderungswillige in die EU und vor allem nach Deutschland strömen würden. Die von vielen als allzu lasch empfundene Reaktion der Bundesregierung angesichts des Vorgehens der türkischen Regierung gegen innere Gegner und angesichts der wiederholten Beleidigungen gegen Deutschland werden oft als Beleg für die Erpressbarkeit Berlins durch dieses Abkommen gewertet.
Schlüsselstaat Türkei
Die Republik Türkei ist laut der Verfassung von 1982 ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Regiert wird das Land von Ministerpräsident Binali Yildirim und dem Kabinett. Staatsoberhaupt ist Recep Tayyip Erdogan, als erster Präsident wurde er 2014 direkt vom Volk gewählt. Im türkischen Parlament sind vier Parteien vertreten, darunter - mit absoluter Mehrheit - die islamisch-konservative AKP von Erdogan. Parteien müssen bei Wahlen mindestens 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, um ins Parlament einziehen zu können. Die Türkei ist zentralistisch organisiert, der Regierungssitz ist Ankara. (dpa)
Die Türkei ist seit 1999 Kandidat für einen EU-Beitritt, seit 2005 wird darüber konkret verhandelt. Würde die Türkei beitreten, wäre sie zwar der ärmste, aber nach Einwohnern der zweitgrößte Mitgliedstaat, bei derzeitigem Wachstum in einigen Jahren wohl der größte.
Als Nachbarstaat von Griechenland und Bulgarien auf der einen Seite und Syrien sowie dem Irak auf der anderen Seite bildet die Türkei eine Brücke zwischen der EU-Außengrenze und den Konfliktgebieten des Nahen und Mittleren Ostens.
Seit Beginn des Syrien-Konflikts ist die Türkei als Nachbarstaat direkt involviert. Rund 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge nahm das Land nach eigenen Angaben auf. Die türkische Luftwaffe bombardiert allerdings auch kurdische Stellungen in Syrien und heizt so den Kurdenkonflikt weiter an.
1952 trat die Türkei der Nato bei. Das türkische Militär - mit etwa 640 000 Soldaten und zivilen Mitarbeitern ohnehin eines der größten der Welt - wird bis heute durch Truppen weiterer Nato-Partner im Land verstärkt. Im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe sollen auch Atombomben auf dem Militärstützpunkt Incirlik stationiert sein.
Das Konzept stammt – kurios genug – nicht aus dem Kanzleramt oder der Kommission oder einer anderen staatlichen Institution, sondern aus dem von Gerald Knaus geführten Thinktank „Europäische Stabilitätsinitiative“. Im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit steht ein im Abkommen beschlossener Mechanismus, durch den aus illegaler Zuwanderung legale Einwanderung werden soll: Die Türkei hat sich verpflichtet, aus ihrem Staatsgebiet irregulär in die EU eingereisten Personen wieder aufzunehmen, im Gegenzug kann eine entsprechende Zahl syrischer Flüchtlinge legal in aufnahmebereite EU-Staaten umgesiedelt werden.
Doch die Zahlen, die die Europäische Kommission veröffentlicht, zeigen: Die tatsächlichen Rückführungen sind minimal. Zwischen 8. Dezember 2016 und 26. Februar 2017 sind genau 3449 Menschen illegal von der Türkei nach Griechenland eingereist. Im selben Zeitraum wurden aber nur 151 Personen im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens in die Türkei zurückgebracht - also nicht einmal fünf Prozent. Von diesen waren nur 64 Syrer, die anderen kamen vor allem aus Pakistan, Algerien, Marokko und anderen Ländern des Nahen Ostens und Afrikas. Seit Inkrafttreten des Abkommen sind – Stand 10. März – nur 1504 Menschen aus Griechenland in die Türkei abgeschoben worden, fast 600 von ihnen im Rahmen eines – in der deutschen Öffentlichkeit wenig bekannten - bilateralen griechisch-türkischen Abkommens, das älter ist als das EU-Abkommen. Im selben Zeitraum fanden aber rund 7000 freiwillige (oder vielmehr: durch finanzielle Anreize bewirkte) Rückführungen aus Griechenland direkt in die Heimatländer statt.
Das Abkommen wird, wie die Zahlen zeigen, nicht massenhaft angewendet und entfaltet daher auch nicht die entscheidende abschreckende Wirkung auf Einwanderungswillige. Nämlich sie davon abzubringen, auf illegalen Wegen von der Türkei nach Griechenland zu reisen. Denn, was in der öffentlichen Darstellung meist untergeht: Auch die nach dem 4. April 2016 nach Griechenland Kommenden, können dort (oder in einem anderen Land, wenn sie erfolgreich weiterreisen) einen Antrag auf Asyl oder Flüchtlingsschutz stellen.
Es werden eben nicht alle neuen irregulären Migranten zurückgebracht, sondern nur solche, deren Asylgesuch vor griechischen Richtern endgültig zurückgewiesen wurde. Und die lassen sich, wie aus der Kommission zu hören ist, bei Berufungsverfahren reichlich Zeit. Wer einmal in Griechenland ist, muss daher eben nicht damit rechnen, sofort in die Türkei zurückgeschickt zu werden.