Europäische Realpolitik Warum die Türkei die Visafreiheit bekommt, obwohl sie die Auflagen nicht erfüllt

Der Flüchtlingsdeal mit Ankara hält nur, wenn türkische Bürger frei durch Europa reisen dürfen. Wie die EU trotz Realpolitik ihre Glaubwürdigkeit wahren kann und warum sich Brüssel mehr für zurückgeführte Syrer interessieren sollte.

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Wenn die Europäische Union konsequent wäre, dürfte sie der Türkei die Visafreiheit für ihre Bürger nicht gewähren. Die EU-Kommission hat nämlich eine Liste mit 72 Forderungen aufgestellt, die die Türken erfüllen müssen, damit sie frei und ohne Visum durch Europa reisen dürfen.

In den letzten Wochen und Monaten hat sich Ankara enorm angestrengt, um die Auflagen zu erfüllen, es geht hier um viele technische und administrative Fragen. Und tatsächlich: Den meisten Forderungen wird die Türkei wohl nachkommen, zuletzt waren es bereits 67, hinter denen Brüssel ein Häkchen machen konnte. Eine Forderung bleibt aber mit Sicherheit unerfüllt – Punkt 65 auf der Liste. Hier geht es um die Definition von Terrorismus und die Standards in Bezug auf Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie faire Verhandlungen vor Gericht.

Gerald Knaus von der „Europäischen Stabilitätsinitiative“, einem Think Tank mit Sitz in Berlin, Paris und Istanbul, hält es für falsch, dass die EU diesen breiten Maßnahmenkatalog im Vorhinein aufgestellt hat. „Hier geht es schlicht um Interessen“, sagt Knaus. „Die EU will, dass das Asylabkommen mit der Türkei nicht platzt. Also wird die EU die Visafreiheit letztlich gewähren.“ Jeder wisse aber, dass die Türkei nicht alle Forderungen erfüllen wird.

Sein Ansatz: Offen und ehrlich kommunizieren, dass die EU gegenüber der Türkei eine realpolitische Linie fährt. Würde Brüssel die Visafreiheit nicht gewähren, setzen die Türken das Flüchtlingsabkommen wohl aus – das hat der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu bereits angekündigt. Es gibt wenige Gründe, daran zu zweifeln.

Die Türkei fordert die Visafreiheit bereits seit fünf Jahren, seit drei Jahren wird darüber verhandelt. Knaus hält die Reisefreiheit für überfällig. „2,5 Millionen Türken haben bereits jetzt einen grünen Pass, mit dem sie frei durch Europa reisen können. Es ist nur fair, dass das künftig für alle Türken gilt.“

Sollte die Reisefreiheit kommen, wie nun von der EU-Kommission empfohlen, dürfen künftig knapp 79 Millionen Türken ohne Visum und für maximal 90 Tage am Stück pro Halbjahr durch Europa reisen – genauer gesagt durch den Schengen-Raum, der derzeit aus 26 Staaten besteht. Die deutsche Industrie würde das wohl freuen. Immerhin dürfte das die Beziehungen zu türkischen Unternehmern und Geschäftspartner erleichtern. Und dem Tourismus in Europa sollte die Visafreiheit ebenfalls zuträglich sein.

Wollen massenhaft Türken Asyl in Europa?

Die EU würde der Türkei ein Privileg zugestehen, dass auch andere EU-Beitrittskandidaten genießen. Für Serbien, Montenegro und Albanien gilt die Visafreiheit bereits.

In einigen europäischen Hauptstädten gibt es nun die Sorge, dass Kurden oder in ihrer Heimat verfolgte Türken nun massenhaft in die EU kommen könnten, um hier einen Asylantrag zu stellen. Knaus rechnet nicht mit einer solchen Entwicklung. Aber selbst wenn es so kommen würde, könnten die EU-Staaten das Problem durch schnelle Asyl-Verfahren in den Griff bekommen, ist der Türkei-Experte überzeugt. Die meisten Türken hätten demnach aller Voraussicht nach, kein Anrecht auf Asyl. Und was ist beispielsweise mit verfolgten Journalisten? „Für die wäre es gut, wenn sie einfacher nach Europa kommen, um hier Hilfe und Asyl zu erhalten“, sagt Knaus.

Was kann die EU jetzt tun, um ihre Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren? Aus Sicht von Knaus muss die EU die Verhandlungen über Presse-, Kunst- und Meinungsfreiheit fortführen. Und noch wichtiger: Die EU soll sich weiter für das Schicksal jener Flüchtlinge interessieren, die sie in die Türkei zurückschickt. „Die Türkei muss gewährleisten, dass jeder zurückgeschickte Syrer, bei ihnen sicher ist“, sagt Knaus. Das könnte beispielsweise das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, der UNHCR, überprüfen. Die europäischen Staaten sollten den Vereinten Nationen zu diesem Zweck eine Namensliste schicken, wer wann von den griechischen Inseln in die Türkei zurückgebracht wurde. Der UNHCR könnte dann regelmäßig deren Schicksale überprüfen.

Anfang April hatte Amnesty International kritisiert, die Türkei habe seit Anfang des Jahres jeden Tag bis zu 100 syrische Flüchtlinge in ihr Heimatland und somit in ein Kriegsgebiet zurückgeschickt. Die Türkei bestreitet die Vorwürfe. Um wie viele Fälle es tatsächlich geht, ist unklar – die Vorwürfe bleiben ungeklärt im Raum stehen.

Fatal wäre es, wenn die Europäische Union der Türkei die Visafreiheit in einigen Wochen gewährt – und so tut als hätte sie alle Auflagen erfüllt – auch im Bereich der Menschenrechte. Knaus hält die Realpolitik zwar für nötig. „Wir sollten die Defizite aber nicht verschweigen.“

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