Er kann es offenbar einfach nicht lassen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist entschlossen, seine Vision der „ever closer union“ weiter zu verfolgen. Als bislang noch weitgehend brachliegendes Feld der europäischen Integrationspolitik hat er sich die Sozialpolitik vorgenommen.
Die scheint ihm und seinen Brüsseler Mitstreitern besonders geeignet, um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren und vor allem um die Herzen EU-skeptischer Bürger zurückzugewinnen. Die EU wird schließlich von ihren Kritikern – sowohl von links als auch von rechts – meist als das „neoliberale“ Instrument der Globalisierung dargestellt, mit dessen Hilfe die politischen und wirtschaftlichen Funktionseliten die europäischen Gesellschaften im Sinne der totalen Verfügbarkeit disziplinieren wollen – auf Kosten der nationalen Sozialstaaten.
Vielleicht werden Juncker und die Befürworter weiterer Integration kurzfristig den einen oder anderen positiv beeindrucken. Doch mittel- und langfristig könnte die gesamte Idee einer europäischen Sozialpolitik auf ihre Schöpfer – oder eher deren Nachfolger – negativ zurückfallen. Nämlich dann, wenn klar wird, dass eine soziale Harmonisierung der Europäischen Union ebenso wenig realisierbar ist wie eine funktionierende Währungsunion. Die nationalen Sozialsysteme sind tief in der Geschichte wurzelnde Ergebnisse nationaler Kulturen. In den meisten Staaten funktionieren sie bislang mehr oder weniger.
Die Misserfolgsgeschichte der Währungsunion sollte den europäischen Polit-Architekten eine Mahnung sein: Was aus jahrhundertealten Gründen nicht zusammen passt, kann man nicht mit Brüsseler Verwaltungsakten und hehrer Integrationsideologie passend machen. Die „Europäische Säule der sozialen Rechte“ wird im besten Falle als Luftnummer enden, die von den Mitgliedsstaaten ignoriert und spätestens vom nächsten Kommissionspräsidenten still ad acta gelegt wird. Im schlimmeren Fall, wenn Brüssel versucht, sie gegen nationale Widerstände durchzusetzen, wird der Versuch einer harmonisierten Sozialpolitik als weiterer Beleg europäischen Scheiterns in die Geschichte eingehen.
Die fünf Szenarien der EU-Kommission zur Zukunft Europas
Die EU der 27 verbleibenden Staaten würde sich weiter an ihren bisherigen Grundfesten orientierten. Dazu gehören etwa die Verteilung von Entscheidungskompetenzen zwischen den nationalen Regierungen und der übergeordneten EU-Ebene. Neue Probleme würden angegangen, wenn sie entstehen. Das Tempo, mit dem Einigungen gefunden würden, hinge dabei stark davon ab, wie schnell sich die Staaten untereinander auf gemeinsame Positionen verständigen könnten. In einigen Bereichen könnte dies zu Stillstand führen.
Die EU-Staaten konzentrieren sich nur noch auf den Binnenmarkt, vor allem auf den grenzüberschreitenden Warenverkehr. In anderen Bereichen werden keine gemeinsamen Lösungen mehr gesucht, die Regierungen können individuell Entscheidungen treffen. Ihre Zusammenarbeit organisieren die Staaten bilateral untereinander und je nach Interessenlage. Für jede neue EU-Regelung werden zwei bestehende zurückgezogen. Die EU als Ganzes wird in zahlreichen internationalen Organisationen nicht mehr vertreten sein.
Im Grundsatz arbeitet die EU weiter wie bislang, es müssen aber nicht mehr alle Staaten bei Allem mitmachen. Stattdessen bekommt eine Reihe von Staaten die Möglichkeit, in einzelnen Bereichen, etwa bei der Verteidigung oder bei Sozialem, enger zusammenarbeiten. In der Praxis liefe dies auf ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten hinaus. Im Ansatz - etwa bei den 19 Staaten, die sich den Euro als Gemeinschaftswährung gegeben haben - gibt es das bereits.
Die EU würde sich nicht mehr um eine große Bandbreite an Themen kümmern. Gemeinschaftsregelungen sollten demnach nur noch in einigen als wichtig identifizierten Bereichen gefunden werden. Welche das sein könnten, ist offen. In den ausgewählten Politikfeldern würde die EU aber mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet, so dass Ergebnisse schneller und effizienter erzielt werden könnten.
Diese Modell stellt eine Art Vereinigte Staaten von Europa dar. Die 27 Länder einigen sich darauf, mehr Entscheidungsgewalt aus den Hauptstädten abzugeben und Beschlüsse gemeinsam zu treffen. Grundlage hierfür ist die Annahme, dass weder die EU in ihrer bestehenden Form, noch isoliert handelnde europäische Staaten den weltweiten Herausforderungen gewachsen sind. In der Folge könnten Gemeinschaftsentscheidungen deutlich schneller getroffen und umgesetzt werden. In Teilen der Bevölkerung, die der EU die Rechtmäßigkeit absprechen oder finden, dass den Nationalstaaten bereits zu viel Macht abhanden gekommen ist, dürfte das aber Unmut auslösen, hieß es in dem Papier.
Leider scheinen Juncker und seine Mitstreiter in der Brüsseler Blase die Lektionen der anhaltenden Euro-Katastrophe, die die Folge von Harmonisierungshybris ist, immer noch nicht gelernt zu haben. Was sie jetzt vollmundig versprechen, um den EU-Feinden contra zu geben, könnte denen in wenigen Jahren neue Argumente liefern. Die Kommission hätte lieber die Finger lassen sollen von der Sozialpolitik. Die ist bei den Nationalstaaten besser aufgehoben.