Die Europäische Union gibt Großbritannien weitere zehn Tage Zeit für Zugeständnisse beim Brexit. Der Start der zweiten Verhandlungsphase Mitte Dezember sei immer noch möglich, erklärte EU-Ratspräsident Donald Tusk nach einem langen Gespräch mit der britischen Premierministerin Theresa May am Freitagabend auf Twitter. „Aber immer noch eine riesige Herausforderung“, so Tusk. May sagte, es gebe Fortschritte, nannte aber keine Details.
Am 4. Dezember - also in zehn Tagen - will EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit May Bilanz der bisherigen Verhandlungen ziehen. Juncker sagte am Freitag, es gebe Bewegung: „In welche Richtung weiß ich nicht, aber ich hoffe, in die gute Richtung.“ Am 4. Dezember „werden wir sehen, ob es ausreichenden Fortschritt gibt.“
Großbritannien will die EU 2019 verlassen. Seit fünf Monaten wird über die Bedingungen verhandelt. Die EU hatte Großbritannien für neue Angebote ursprünglich eine zweiwöchige Frist gesetzt, die am Freitag ablief. Nun hat May bis übernächste Woche Zeit.
Welche deutschen Branchen der Brexit treffen könnte
Jedes fünfte aus Deutschland exportierte Auto geht laut Branchenverband VDA ins Vereinigte Königreich. Präsident Matthias Wissmann warnte daher vor Zöllen, die den Warenverkehr verteuerten. BMW etwa verkaufte in Großbritannien 2015 rund 236 000 Autos - über 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Mercedes waren es 8 Prozent, bei VW 6 Prozent. BMW und VW haben auf der Insel zudem Fabriken für ihre Töchter Mini und Bentley. Von „deutlich geringeren Verkäufen“ in Großbritannien nach dem Brexit-Votum berichtete bereits Opel. Der Hersteller rechnet wegen des Entscheids 2016 nicht mehr mit der angepeilten Rückkehr in die schwarzen Zahlen.
Für die deutschen Hersteller ist Großbritannien der viertwichtigste Auslandsmarkt nach den USA, China und Frankreich. 2015 gingen Maschinen im Wert von 7,2 Milliarden Euro auf die Insel. Im vergangenen Jahr liefen die Geschäfte weniger gut. In den ersten zehn Monaten 2016 stiegen die Exporte nach Großbritannien dem Branchenverband VDMA zufolge um 1,8 Prozent gemessen am Vorjahr. 2015 waren sie aber noch um 5,8 Prozent binnen Jahresfrist gewachsen. Mit dem Brexit sei ein weiteres Konjunkturrisiko für den Maschinenbau dazugekommen, sagte VDMA-Präsident Carl Martin Welcker im Dezember.
Die Unternehmen fürchten schlechtere Geschäfte wegen des Brexits. Der Entscheid habe bewirkt, dass sich das Investitions- und Konsumklima in Großbritannien verschlechtert habe, sagte jüngst Kurt Bock, Präsident des Branchenverbands VCI. Für die deutschen Hersteller ist Großbritannien ein wichtiger Abnehmer gerade von Pharmazeutika und Spezialchemikalien. 2016 exportierten sie Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro ins Vereinigte Königreich, rund 7,3 Prozent ihrer Gesamtexporte.
Für Elektroprodukte „Made in Germany“ ist Großbritannien der viertgrößte Abnehmer weltweit. 2015 exportierten deutsche Hersteller laut Branchenverband ZVEI Waren im Wert von 9,9 Milliarden Euro in das Land, 9,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Im vergangenen Jahr liefen die Geschäfte mit dem Vereinigten Königreich nicht mehr so gut. Nach zehn Monaten verzeichnet der Verband ein Plus bei den Elektroausfuhren von 1,7 Prozent gemessen am Vorjahr. Grund für die Eintrübung seien nicht zuletzt Wechselkurseffekte wegen des schwachen Pfunds, sagte Andreas Gontermann, Chefvolkswirt des ZVEI.
Banken brauchen für Dienstleistungen in der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Mit dem Brexit werden Barrieren befürchtet. Deutsche Geldhäuser beschäftigten zudem Tausende Banker in London, gerade im Investmentbanking. Die Deutsche Bank glaubt indes nicht, dass sie ihre Struktur in Großbritannien „kurzfristig wesentlich“ ändern muss. Die Commerzbank hat ihr Investmentbanking in London schon stark gekürzt. Um viel geht es für die Deutsche Börse. Sie will sich mit dem Londoner Konkurrenten LSE zusammenschließen. Der Brexit macht das Projekt noch komplizierter.
Die EU fordert, dass Großbritannien alle finanziellen Verpflichtungen aus der Zeit der EU-Mitgliedschaft erfüllt. Die Schlussrechnung wird inoffiziell auf 60 bis 100 Milliarden Euro taxiert. Irland verlangt zudem Garantien, dass keine feste Grenze zum britischen Nordirland errichtet wird. Dritter Punkt sind die Rechte der rund 3,2 Millionen EU-Bürger in Großbritannien und der 1,2 Millionen Briten auf dem Kontinent nach dem Brexit.
Stellt die EU bei ihrem Gipfel Mitte Dezember „ausreichenden Fortschritt“ bei allen drei zentralen Trennungsfragen fest, können die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen beginnen. Es gebe noch offene Punkte bei allen Themen, sagte May nach ihrem Gespräch mit Tusk. „Aber es herrschte eine sehr positive Atmosphäre in den Gesprächen und ein echtes Gefühl, dass wir zusammen voranschreiten wollen.“
In den vergangenen Tagen war in britischen Medien spekuliert worden, dass May ihr finanzielles Angebot an die EU auf 40 Milliarden Pfund erhöhen will. Auf Nachfrage sagte sie dazu aber nichts Konkretes. Auch mögliche Lösungen zur Vermeidung einer Grenze in Irland nannte sie nicht. Man teile das Ziel, dass Menschen und Waren wie jetzt die Grenze überqueren und keine neue Barrieren errichtet werden sollten. Beide Seiten blieben dazu im Gespräch, sagte die Regierungschefin. Tusk stellte in seinem Tweet klar, dass Großbritannien sich auch bei der Irland-Frage bewegen müsse.
In Irland entspinnt sich derweil eine Regierungskrise, die zu Neuwahlen führen und Auswirkungen auf die Brexit-Verhandlungen haben könnte. Die konservative Partei Fianna Fáil kündigte ein Misstrauensvotum gegen die stellvertretende Ministerpräsidentin Frances Fitzgerald für kommende Woche an. Ministerpräsident Leo Varadkar, dessen Minderheitsregierung von der Fianna-Fáil-Partei unterstützt wird, zeigte sich erbost. Auch Außenminister Simon Coveney sagte: „Irland kann eine Neuwahl jetzt nicht gebrauchen.“