Europäische Union Spaniens neuer Regierung droht kurze Lebensdauer

Nach mehr als zehn Monaten Hängepartie hat Spanien wieder eine Regierung. Doch die Unsicherheit über die viertgrößte Wirtschaftsmacht im Euro-Raum ist damit nicht ausgestanden. Die Zusammensetzung des neuen Kabinetts provoziert Konfrontation.

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Der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy. Quelle: imago images

315 Tage sollten genug sein, um sich Gedanken über die Besetzung der Ministerposten zu machen und die entsprechenden Kandidaten zu verpflichten. Könnte man meinen. Doch nach seiner Vereidigung zum Ministerpräsidenten, die in Spanien das mehr als zehn Monate währende Patt im Parlament beendeten, nahm sich Mariano Rajoy fünf weitere Tage Bedenkzeit. Ein Grund dafür war tatsächlich, dass er sein Kabinett nicht an den katholischen Totengedenktagen Allerheiligen und Allerseelen vorstellen wollte. Ohnehin gibt es genügend Zweifler, die der Regierung keine lange Lebenszeit prophezeien.

Die erste große Zitterpartie steht nämlich bereits bei der Verabschiedung des Haushalts für 2017 an. Die EU-Kommission wartet ungeduldig auf das Budget, das schon im Oktober hätte stehen sollen. Doch ohne Regierung kein Budget. Und nun muss Rajoy um Kompromisse feilschen. Denn anders als während seiner Amtszeit zwischen 2011 und 2015 weiß der konservative Premier nun keine absolute Mehrheit im Parlament hinter sich. Nie zuvor in der demokratischen Geschichte Spaniens konnte sich eine Regierung auf so wenige eigene Abgeordnete stützen: Seine konservative Partido Popular (PP) hat lediglich 137 Sitze. Für eine Mehrheit sind 176 Stimmen nötig.

Gemessen daran waren sogar Rajoys eigene Leute überrascht, als er am Donnerstagabend ein Kabinett vorstellte, das in erster Linie ein „Weiter so“ signalisiert. Als Rajoy sich weitere fünf Tage Bedenkzeit nahm, hatten selbst in der PP viele frischeren Wind erwartet.

Gut, dass Luis de Guindos Wirtschaftsminister bleiben würde, das schien beinahe gesetzt. Mit María Fátima Báñez behält auch die Arbeitsministerin ihren Posten. Rajoy signalisiert damit, dass er die großen Reformen der vergangenen Legislaturperiode nicht aufs Spiel setzen will, und bei den Themen Wirtschaftswachstum und Schaffung weiterer Arbeitsplätze auf Kontinuität setzt. Nach dem Platzen der Immobilienblase stürzte Spanien in eine tiefe Wirtschaftskrise. Das durch marode Hypotheken in Schieflache geratene Bankensystem musste 2012 durch einen Kredit der EU in Höhe von 40 Milliarden Euro gestützt werden.

Doch der Verbleib Cristóbal Montoros im Finanzministerium wirft mehr Fragen auf als Antworten. In den vergangenen Jahren war es ihm nicht gelungen, Spaniens Haushaltsdefizit zu bändigen. Im Gegenteil: Ebenso wie Portugal entging Spanien im Sommer nur um ein Haar einem Defizitverfahren. Die Blockade von Strukturfonds behält sich Brüssel aber noch vor. Dass Montoro die Verhandlungshoheit mit den finanzpolitisch aufmüpfigen autonomen Regionen Spaniens genommen wird - sie liegt künftig in den Händen der Vize-Regierungschefin Soraya Sáenz de Santamaría - wird den Mann nicht besonders grämen.

Der Premier holt zwar sechs neue Gesichter in sein Kabinett. Doch mit Ausnahme des bisherigen Botschafter Spaniens bei der EU, Alfonso Dastis, ist keiner der Neuen durch besonderes diplomatisches Geschick aufgefallen. Mit Alvaro Nadal führt künftig ein Mann das Energieministerium, dessen Zwillingsbruder als Experte auf diesem Gebiet gilt. Nadal sollte wohl für seine Arbeit als wirtschaftspolitischer Einflüsterer Rajoys entlohnt werden - und gleichzeitig als ewiger Konkurrent des Wirtschaftsministers de Guindos ausscheiden. 

„Wir haben uns für die Beibehaltung des für die Wirtschaft verantwortlichen Teams entschieden. Es hat entscheidend dazu beigetragen, dass wir die Lage Spaniens zum besseren wendeten“, erklärte der parlamentarische Sprecher der PP, Rafael Hernando. „Ja, wir haben nun die Regierung, die wir für diese neue Etappe des Dialogs brauchen, aber mit den Leuten, die in den vergangenen Jahren wieder für Wirtschaftswachstum gesorgt haben.“

Die Opposition sieht dies fundamental anders. Mit diesen Signalen werde Rajoy „den Haushalt nicht durchbringen,“ warnte der Sprecher der Arbeiterpartei PSOE, Mario Jiménez. Durch ihre Enthaltung hatte die PSOE zwar am vergangenen Samstag die Wahl Rajoys mit einfacher Mehrheit ermöglicht. Doch damit endet für die Partei die Aufgabe als Steigbügelhalter. Zumal sie selbst nach den gescheiterten Versuchen, einen Linksregierung zu formieren, vor einer Zerreißprobe steht.

Wenig überraschend darf die PP auch von der linken Protestpartei Podemos keine Unterstützung erwarten. „Wir wussten ja schon, dass diese Regierung uns auf denselben Weg wie immer führen wird: Weitere Kürzungen, weitere Einsparungen“, kritisierte Sprecher Rafa Mayoral nach der Bekanntgabe des Kabinetts. „Wir bekräftigen deshalb unsere Opposition gegen diese Regierung, denn es ist die Regierung, die den einfachen Menschen weiter Leiden zufügen wird.“

Doch selbst die mit der PP verbündete bürgerliche Partei Ciudadanos geht die Legislaturperiode mit einer unverhohlenen Warnung an Rajoy an: „Der Hauptverantwortliche, ob das gut geht oder nicht, sind Sie“, konfrontierte der Ciudadanos-Vorsitzende Albert Rivera den neuen alten Regierungschef gleich bei Amtsantritt. „Wenn Sie die Forderungen von Ciudadanos einhalten, wird es gut gehen.“ Aber auch dann kommen PP und Ciudadanos nur auf 169 Stimmen im Parlament.

Experten sind skeptisch

Wie zahlreiche andere Experten halten es deshalb auch die Analysten der Ratingagentur Fitch für unwahrscheinlich, dass die Regierung eine komplette Legislaturperiode Bestand haben wird. Keinesfalls aber sei mit weiteren substanziellen Strukturreformen zu rechnen wie während Rajoys erster Amtszeit. Fernando Vallespín, Politikwissenschaftler an der Madrider Universidad Autónoma erwartet eine „kurze und unheimlich konfliktreiche Legislatur“.

Die starke Nachfrage nach spanischen Staatsanleihen zu Beginn der Woche mochte noch darüber hinwegtäuschen. Die Rendite der zehnjährigen spanischen Bonds fiel in Folge der Vereidigung Rajoys um vier Basispunkte auf 1,18 Prozent.

Es wird schwierig werden. „Difícil“, wie der Premier selbst einräumt. Auch deshalb brach er mit einem ungeschriebenen Gesetz, wonach spanische Premiers jeweils am Tag nach ihrer Vereidigung das Team vorstellten, mit dem sie die nächsten vier Jahre arbeiten wollten. Nur einmal, 1993, brauchte der Sozialist Felipe González drei Tage.

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Das Colosseum Quelle: REUTERS

Die EU-Kommission verlangt für nächstens Jahr weitere Einsparungen in Höhe von 5,5 Milliarden Euro, um die Neuverschuldung unter das für die Euro-Länder verbindliche Limit von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu drücken.

Rajoy zögert, Hand an die Mehrwertsteuer und die Einkommensteuer zu legen, obwohl dort in Spanien laut Brüssel und auch dem Internationalen Währungsfonds (IWF) noch Luft nach oben wäre. Steuererhöhungen, die die Mittelklasse treffen, sind mit den Ciudadanos-Verbündeten nicht zu machen. „Bei den Unternehmenssteuern hakt es am meisten“, meint Francisco de la Torre, steuerpolitischer Sprecher von Ciudadanos. „Wenn wir diese Lücke nicht schließen, kriegen wir keinen Haushalt für das nächste Jahr zusammen.“

2007, dem Jahr mit dem bisher stärksten Unternehmenssteueraufkommen in Spanien, überwiesen die Betriebe insgesamt 45 Milliarden Euro an die Staatskasse. Im ersten Halbjahr 2016 waren es dagegen nicht einmal 13 Milliarden Euro. Die Forderungen konzentrieren sich deshalb auf das Schließen von Schlupflöchern und die Streichung von Vergünstigungen.

Bei den Unternehmern geht bereits die Angst um. „Es besteht die Gefahr, dass man kurzfristig auf die einfachste Lösung zurückgreift und Steuern erhöht,“ schellt Javier Campo die Alarmglocke. Der Vorsitzende von AECOC, einem der größten spanischen Unternehmensverbände, warnt auch gleich vor den Konsequenzen: „Das wird negative Folgen für das Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen haben.“

Auf den ersten Blick brummt Spaniens Wirtschaft. Auch im dritten Quartal war sie mit einem Plus von 0,7 Prozent das Zugpferd in der Euro-Zone. Doch die Schubkraft kam vor allem aus dem Tourismussektor. Spanien profitierte wie kein anderes Land von der Terrorangst, die Urlauber von den Küsten der Türkei, Nordafrikas und auch Frankreichs fern hielt. Noch immer sind rund 20 Prozent der Spanier arbeitslos, und zigtausende arbeiten für weniger als 1000 Euro im Monat und mit zeitlich befristeten Verträgen.

„Für die Unternehmen, die immerhin für die Schaffung von Arbeitsplätzen sorgen sollen, ist Verlässlichkeit ein entscheidender Faktor für künftige Planungen“, sagt Albert Peters, Vorsitzender des in Barcelona ansässigen Kreises deutschsprachiger Führungskräfte. „Nur so werden wieder die Investitionen nach Spanien fließen, die in den vergangenen Monaten ausgeblieben sind.“ Nach Berechnungen der Großbank BBVA betrug die Investitionslücke im ersten Halbjahr 2016 rund 8 Milliarden Euro. Das sind etwa 0,8 Prozent des spanischen BIP.

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