




Die EU-Kommission wiederholt den Grundsatz unablässig: Brüssel will sich in den Energiemix der Mitgliedsstaaten nicht einmischen. Ob ein Land auf Kernenergie setzt oder verzichtet, soll es in Eigenregie entscheiden können, wie es die EU-Verrträge vorsehen. Diesen Grundsatz sieht die Bundesregierung nun gefährdet. Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia überarbeitet die Beihilferichtlinien für den Energiesektor und will einheitliche Regeln für Kernkraftwerke einführen, statt der bisherigen langwierigen Einzelprüfung. Noch brisanter: In den Vorarbeiten zu der neuen Beihilferichtlinie haben Almunias Beamte auf Technologieneutralität gepocht. Das heißt Kernenergie würde genauso behandelt wie Ökostrom, weil beide wenig Kohlenstoff freisetzen.
Die EU-Kommission hat am Freitag ausdrücklich betont, dass zum Thema Technologieneutralität keinerlei Entscheidung getroffen sei. Im jüngsten Entwurf aus dem Hause Almunia ist davon auch nicht die Rede. Aber das Thema hat Brisanz. Bei ihrer letzten Pressekonferenz vor der Sommerpause hat Kanzlerin Merkel die Brüsseler Pläne zurückgewiesen.
Chronik der Energiewende
Der von einem Erdbeben ausgelöste Tsunami überschwemmt und zerstört in Fukushima-Daini 250 Kilometer nordöstlich von Tokio Teile des Kernkraftwerks.
Die Bundesregierung ordnet an, sieben ältere Kernkraftwerke sofort vom Netz zu nehmen, die übrigen zehn Reaktoren kommen auf den Prüfstand.
Union und FDP einigen sich auf einen kompletten Ausstieg aus der Atomenergie bis 2022, die sieben älteren Meiler müssen endgültig stillgelegt werden.
Das Kabinett segnet das Atom- und Energiepaket ab und präsentiert die energie- und klimapolitischen Ziele bis 2050.
Die EU-Kommission reklamiert für sich Kompetenzen bei der Energiewende. Der Strommarkt müsse europäischer werden.
Angela Merkel fordert eine Reform des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes (EEG): „Wenn die EEG-Umlage so weiter steigt, dann haben wir mit der Energiewende ein Problem.“
Die Kontroverse um die Brüsseler Pläne unterstreicht, wie unterschiedlich europäische Länder in Sachen Energie ticken. Deutschland steht mit seinem Ausstieg aus der Kernenergie auf der anderen Seite, Länder wie Großbritannien bauen neue Kernkraftwerke. Die britische Regierung betreibt auch schon seit einiger Zeit in Brüssel Lobby-Arbeit, damit Nuklear- und Ökostrom als gleichgestellt werden bei den Subventionen.
Die Regierung von David Cameron will dem französischen Kernkraftwerkbauer und -betreiber Electricité de France (EDF) für zwei neue Meiler in Hinkley einen Langfristvertrag („Contract for a Difference“) anbieten. Medienberichten zufolge würde der Vertrag 35 bis 40 Jahre laufen und EDF einen Strompreis sichern, der doppelt so hoch wie der aktuelle Schnitt liegt. Er wäre auch um 19 Prozent höher als der Preis, der gegenwärtig für Windenergie gezahlt wird.
Die aktuellen Beihilferegeln der EU würden einen solchen Deal nicht zulassen. Der britische „Guardian“ hatte berichtet, dass EU-Energiekommissar Günther Oettinger das Vorhaben als Planwirtschaft im „Sowjet-Stil“ kritisiert habe. Jede Aufweichung der bisher strikten Beihilferegeln käme den Briten daher gelegen.
In Berlin ist der Vorstoss Brüssels nicht genehm, weil er klar anerkennt, dass Kernenergie in Europa eine Zukunft hat. „Die CO2-Reduzierung ist ein wichtiges Ziel der europäischen Klimapolitik. Viele Mitgliedstaaten sind der Ansicht, dass Kernenergie dabei helfen kann“, sagt der deutsche Europa-Abgeordnete Herbert Reul (CDU) . „Das ist legitim, auch wenn das in Deutschland nicht jedem in den Kram passt."
Europa
Es ist vor allem falsch, Brüssel eine einseitige Förderung von Kernenergie vorzuwerfen. Im Herbst will Energiekommissar Oettinger Vorschläge zur Haftung von Kernkraftwerken unterbreiten. Bisher gelten dazu nationale Regeln, die sehr stark variieren. In Frankreich haften die Betreiber nur für 91,5 Millionen Euro je Kraftwerk. In Deutschland müssen sie eine Deckungsvorsorge für Unfälle von 2,5 Milliarden Euro nachweisen, die zum Großteil durch eine gegenseitige Garantieerklärung geleistet wird. Kritiker halten diese Summen für viel zu niedrig. Der frühere Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Gerd Wagner, sprach von „impliziten Subventionen“ durch die Kernenergie. Sollte sich die EU-Kommission für ein einheitliches und hohes Niveau an Haftung entscheiden, kämen auf einige Betreiber Mehrkosten zu.
Der Streit um die Beihilfe für Kernkraft in Europa wird noch eine Weile andauern. Almunias Papier geht erst im Herbst in eine Konsultation mit den Mitgliedsstaaten. Dabei kann Deutschland zunächst erst einmal nur auf Österreich als Verbündeten hoffen.