Josef Janning vom European Council on Foreign Relations glaubt, dass die May-Regierung darauf baue, dass die Europäer und insbesondere die Deutschen nur hoch pokern. „Die Briten können sich nicht vorstellen, dass ein enger Verbündeter wie Deutschland knallhart in oder out sagt“, sagt Janning. Und falls doch? Dann dürfte London vor allem probieren, die restlichen Europäer gegeneinander auszuspielen, insbesondere den Osten und Süden gegen die Länder in Zentral- und Westeuropa. Nach dem Wahlsieg von Donald Trump könnte London als Atommacht beispielsweise mit Sicherheitsgarantien locken, für die die USA unter dem künftigen Präsidenten womöglich nicht mehr einstehen wollen. Der Preis dafür wäre ein Entgegenkommen bei den Brexit-Verhandlungen.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
Ohnehin sitzt Trump zumindest indirekt mit am Verhandlungstisch. Theresa May steht nämlich vor der Frage, ob sie sich außen- und sicherheitspolitisch künftig eher an der Seite der Europäer oder an der der USA sieht. Sucht sie den Schulterschluss mit den Europäern, könnte ihr das auch in den Brexit-Verhandlungen nützlich sein. Unterstützt sie eher Trump dürfte ihr das im Kreise der europäischen Staats- und Regierungschefs kaum Sympathien einbringen.
In welchen Bereichen sind die Briten zu Kompromissen bereit?
Beim Geld könnten sich London und Brüssel wohl am ehesten einigen. Mehrere britische Kabinettsmitglieder haben bereits in Aussicht gestellt, dass London die finanziellen Verpflichtungen auch künftig erfüllen wird. Allerdings dürfte London wohl nachverhandeln wollen. „Die Briten wollen zahlen, aber deutlich weniger als bislang“, sagt EU-Experte Janning. „Das werden die restlichen Europäer kaum akzeptieren.“
Für die Briten zeigt sich auch in diesem Fall wieder das grundlegende Dilemma. Sie wollen im Binnenmarkt bleiben, aber die notwendigen Auflagen nicht erfüllen – ganz anders als Norwegen. Das skandinavische Land ist kein EU-Mitglied, akzeptiert aber alle vier Freiheiten sowie europäische Gesetze, die sich auf den gemeinsamen Binnenmarkt beziehen und zahlt ins Brüsseler Budget ein. Würde das Vereinigte Königreich dieses Modell akzeptieren, verriete es die Idee des Brexit-Referendums. Die Briten könnten die Privilegien des Binnenmarktes in Anspruch nehmen, hätten aber die gleichen Pflichten wie ein EU-Mitglied. Und genau dagegen hatte die britische Bevölkerung im Referendum gestimmt
Wie mächtig ist Theresa May?
Die Premierministerin steht seit sechs Monaten an der Spitze der britischen Regierung und ist die klare Nummer eins. Nach dem Referendum und dem Rücktritt ihres Amtsvorgängers David Cameron hat sie dem Land Orientierung gegeben. „Für Theresa May beginnt nun die kritische Phase“, sagt Nicolai von Ondarza. Sie müsse jetzt einen Plan für den Brexit entwickeln. „Alle verstehen langsam, wie viel für das Vereinigte Königreich auf dem Spiel steht und dass London am Ende der große Verlierer sein könnte. Und zugleich machen die harten Brexit-Befürworter Druck, damit endlich die Verhandlungen beginnen.“ Kurzum: Wenn es May nicht gelingt, eine überzeugende Verhandlungsstrategie vorzulegen, wird auch der Druck auf sie steigen.