Das Zypern-Chaos kam Viktor Orbán sehr gelegen. Der ungarische Ministerpräsident stand vor knapp zwei Wochen im Kreuzfeuer der Kritik aus Brüssel, nachdem seine rechtskonservative Regierung neuerliche Verfassungsänderungen durchgesetzt hat, die nur einen einzigen Profiteur kennt: Viktor Orbán selbst. Doch ehe die Drohungen, Ungarn Fördermittel oder das Stimmrecht in EU-Fragen zu entziehen, zu Ende diskutiert waren, eröffnete Zypern einen neuen, heißeren Krisenherd. Dass der ungarische Staatspräsident Janos Ader die jüngsten „Reformen“ am Montagabend erwartungsgemäß in Kraft gesetzt hat, ging unter. Das ist tragisch, denn Ungarn entwickelt sich zum größten Problemfall Europas – wirtschaftlich wie politisch.
Mit den Verfassungsänderungen demontiert Viktor Orbán weiter die Demokratie. Zwei Beispiele: Das Verfassungsgericht darf künftig vom Parlament beschlossene Änderungen der Verfassung nur noch in verfahrensrechtlicher Hinsicht, nicht aber inhaltlich prüfen. Die Präsidentin des Nationalen Justizamtes – eine von Orbán eingesetzte loyale Funktionärin – darf ab sofort bestimmte Fälle bestimmten Gerichten zuweisen. Unangenehme Richter können so umgangen werden. Mit europäischen Grundwerten hat all das wenig zu tun, findet auch José Manuel Barroso. „Diese Änderungen werfen Bedenken auf bezüglich des Respekts für das Rechtsstaatsprinzip, für das EU-Recht und die Standards des Europarates“, so der EU-Kommissionschef.
Die umstrittenen Verfassungsänderungen
Die Höchstrichter dürfen Verfassungsänderungen und -zusätze künftig nur mehr noch verfahrensrechtlich, nicht mehr inhaltlich prüfen. Darüber hinaus ist es ihnen verwehrt, sich auf die eigene Spruchpraxis aus der Zeit vor Inkrafttreten der derzeitigen Verfassung im Januar 2012 zu berufen.
Die vom Ministerpräsidenten ernannte Leiterin des Nationalen Justizamtes bekommt eine Vollmacht, um in bestimmten Fällen die Gerichte zuzuweisen.
Es soll die Möglichkeit geben, dass Wahlwerbung in privaten Medien verboten werden kann.
Wenn Obdachlose auf der Straße übernachten, können sie dafür ins Gefängnis kommen.
Die Regierungsmehrheit im Parlament erhält die Möglichkeit willkürlich über die Zuerkennung des Kirchenstatus zu entscheiden.
Der bisher von der Verfassung gewährte Schutz der Familie soll auf Mann und Frau, die miteinander verheiratet sind und Kinder großziehen, eingeengt werden.
Die Finanzautonomie der Universitäten wird durch von der Regierung eingesetzte Wirtschaftsdirektoren („Kanzler“) eingeengt.
Es gibt per Gesetz die Möglichkeit, Universitätsabgänger, die ohne Studiengebühren studiert haben, auf das Bleiben in Ungarn zu verpflichten.
Erstaunlich: In Ungarn selbst taugen die Verfassungsänderungen nicht zum Aufreger. Außer ein paar Hundert Studenten in der Hauptstadt Budapest, deren Proteste mit polizeilicher Härte beantwortet werden, reagieren Bürger und Opposition gelassen. „Die Stimmung ist eher apathisch. Die Opposition ist untereinander heillos zerstritten. Sie wird sich auch bei ausländischem Druck weder einigen noch mit der Regierung gegen das Ausland stellen“, so Siegfried Franke, Professor für Wirtschaftspolitik an der Andrássy Universität Budapest. „Die Parteien haben noch einen langen Lernprozess vor sich, bis sie – bei allen programmatischen Differenzen – demokratisch respektvoll miteinander umgehen.“
Leichtes Spiel für Orbán
So hat Orbán zu Hause leichtes Spiel. Mit seiner Partei hat er sich klar im rechten Lager positioniert. Unter dem Schlagwort der bürgerlichen und nationalen Werte pflegt er eine rechts-nationale und anti-europäische Politik. Kritik an seiner Person aus dem Ausland deutet er um in Kritik an Ungarn. Und die sei völlig unberechtigt. Die Zahlen sprächen für sich.
Wahr ist: 2011 und 2012 lag das Haushaltsdefizit des Landes mit 2,0 und 1,0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts unter dem Maastricht-Grenzwert. In diesem und im kommenden Jahr soll die Verschuldung auch nur moderat ansteigen (1,3 bzw. 1,0 Prozent in Prozent des BIP). Zahlen, die nur wenige Staaten in der Europäischen Union vorweisen können. Doch der Schein trügt: „Die Einhaltung der Kriterien gelingt nur, weil bei drohender Überschreitung der Defizitkriterien seit geraumer Zeit flugs viele kleine Steuern und Abgaben eingeführt werden, die die Wirtschaft und den Verbraucher arg belasten“, schränkt Franke ein. So ist die Umsatzsteuer auf inzwischen 27 Prozent geklettert, trauriger Rekord innerhalb der Europäischen Union. Selbst Lebensmittel werden mit drastischen 18 Prozent besteuert.
Die Inflation gerät aus dem Ruder
Die Folge: Die Inflation galoppiert, die Teuerungsrate dürfte 2012 bei rund sechs Prozent liegen. In diesem Jahr rechnet die Regierung mit einer Inflationsrate von vier Prozent. Das bremst den Binnenkonsum mehr und mehr aus. Die Inlandsnachfrage wuchs zuletzt 2007, im vergangenen Jahr ging der Konsum der Ungarn hingegen um 4,2 Prozent zurück. In Budapest müssen immer wieder kleinere Läden schließen. Auch zahlreiche Wohnungen und Büros in der Hauptstadt stehen leer.
„Auch die Budapester Verkehrsbetriebe befinden sich in einer äußerst prekären Lage“, berichtet Franke. Politik und Manager haben die Gesellschaft heruntergewirtschaft und zum Teil geplündert. Mehr als ein Dutzend Strafverfahren laufen. Die BKV haben Schulden von über 300 Millionen Euro angehäuft. Doch eine Pleite, wie bei der staatlichen Fluglinie Malev, die vor gut einem Jahr in die Insolvenz geschickt wurde, ist unwahrscheinlich. „Die Bedeutung, die der öffentliche Personennahverkehr für die Menschen und die Wirtschaft hat, ist enorm. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Regierung eine Pleite hinnehmen würde“, sagt Franke. Die Angestellten sind trotzdem in Angst, sie fürchten Stellenabbau und Gehaltskürzungen.
Das ist Viktor Orbán
Viktor Orbán, 1963 geboren, wuchs in bescheidenen Verhältnissen in einem Dorf bei Szekesfehervar - 70 Kilometer südwestlich von Budapest - auf. Im ländlichen Umfeld seiner Kindheit galt er als schwer erziehbar.
Als Jurastudent in der Hauptstadt Budapest rebellierte Orbán mit Gleichgesinnten gegen den geistlosen Obrigkeitsstaat im späten Kommunismus. Der Fidesz, den er mitbegründete, war die erste unabhängige Jugendorganisation dieser Zeit.
1998 übernahm Orbán erstmals die Regierungsgeschäfte. Mit 35 Jahren war er damals der jüngste Ministerpräsident der ungarischen Geschichte.
Als Orbán 2002 überraschend die Wahl und damit die Regierungsmacht verlor, wollte er sich damit nicht abfinden. Er ließ seine Anhänger aufmarschieren und reklamierte auf "Wahlbetrug". Die regierende Linke setzte der Oppositionsführer immer wieder mit Straßenkundgebungen und Volksabstimmungen unter Druck.
Die Wahlen im Frühjahr 2010 brachten Orbán die langersehnte Rückkehr an die Macht, noch dazu mit der verfassungsrelevanten Zweidrittelmehrheit für seine Fidesz-Fraktion.
Nach seiner Rückkehr sprach Orbán umgehend von einer "Revolution der Wahlkabinen" und von der Ankunft eines neuen "Systems der nationalen Zusammenarbeit".
Das bedeutete in der Praxis die Aushöhlung demokratischer Institutionen. Kritiker zufolge ordnet Orbán seine ganze Politik seinen Machtbedürfnissen unter. So würden auch die kürzlich verabschiedeten Verfassungsänderungen vor allem dazu dienen, dass Orbán noch mehr schalten und walten kann, wie er will.
Für die nächsten 15 bis 20 Jahre, so erklärte Orbán vor Partei-Intellektuellen, müsse "ein einziges politisches Kraftfeld die Geschicke der Nation bestimmen".
Fragwürdige Mittel
Um die Bürger zu besänftigen und die Inflation in den Griff zu bekommen, greift Viktor Orbán zu fragwürdigen Mitteln. Beispiel Energiesektor: Per Dekret führte die Regierung zum Jahresbeginn Preisgrenzen für Strom, Gas und Fernheizung für private Abnehmer ein – die Haushalte wurden so um zehn Prozent entlastet. Den Schaden haben die privatwirtschaftlichen Unternehmen. Sie müssen jährlich Einbußen in Höhe von über 315 Millionen Euro verkraften. Auch deutsche Konzerne wie EnBW und RWE sind betroffen. Der Essener Dax-Konzern meldete, in diesem Jahr in Ungarn keine Gewinne mehr einzufahren. Auch ausländische Telefongesellschaften und Banken werden willkürlich gegängelt. Laut einer Umfrage der Deutsch-Ungarischen Handelskammer klagen 87 Prozent der Firmen über die mangelnde Berechenbarkeit von Orbáns Politik.
Der konservative Ministerpräsident spielt ein gefährliches Spiel: Seine „Reformen“ kommen beim Wahlvolk gut an und halten Ungarn mit letzter Kraft am Leben. Doch weitere Eingriffe kann sich Orbán nicht leisten, zu abhängig ist sein Land von funktionierenden, exportstarken Unternehmen. Abgesehen von Irland und Estland, exportiert kein anderes EU-Land einen so hohen Anteil seines Bruttoinlandsprodukts: Knapp 90 Prozent waren es im vergangenen Jahr, und die großen Exporteure sind die ausländischen Investoren.
„Die Stimmung bei den Unternehmen wird immer schlechter“, warnt Erika Anders-Clever, Repräsentantin bei "Germany Trade & Invest" (GTAI) in Budapest, der Bundesgesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing. Zu investieren wage kaum noch ein Mittelständler, Mitarbeiter einzustellen erst recht nicht. Es herrscht Untergangsstimmung.
Ungarn mit großen Finanzierungsproblemen
Und durch die umstrittene Politik Orbáns droht dem Land neues Ungemach. Führende Politiker in Brüssel fordern eine harte Hand gegenüber dem konservativen Machtmenschen und diskutieren laut einen Stimmentzug in Europa-Fragen oder die Kürzung von EU-Fördermitteln.
„Die EU-Förderprogramme sind vielerorts die Hauptfinanzierungsquelle“, so Anders-Clever. Würden diese Gelder wegfallen, wären zahlreiche Infrastrukturprojekte in Gefahr. „Gebaut wird inzwischen nur noch, wenn eine EU-Finanzierung hinter einem Vorhaben steckt.“ Denn Auftragnehmer wie Anleger wissen: Beim Staat gibt es nicht mehr viel zu holen. Wie lange die Regierung noch offene Rechnungen zahlen kann, ist fraglich. Fakt ist: An den Märkten kann sich Ungarn kaum mehr finanzieren, nachdem alle der drei großen Ratingagenturen ungarische Staatsanleihen auf Ramschniveau abgewertet haben. Auch die Verhandlungen über einen Notkredit vom Internationalen Währungsfonds (IWF) liegen auf Eis, zum wiederholten Male.
Ungarns Schwächen
Einzelne Sektoren wie Banken oder Energie haben in Ungarn mit extremen steuerlichen Belastungen zu kämpfen.
Vor allem in technischen Berufen herrscht in Ungarn Fachkräftemangel.
Trotz des günstigen Investitionsumfelds fiel die Investitionsquote Ungarns auf nur noch 17 Prozent.
Durch das schwindende Vertrauen Ungarns im Ausland sinkt der FDI-Zufluss (Foreign Direct Investment, ausländische Direktinvestitionen)
Durch die Zuspitzung der Kreditklemme im Land drohen Insolvenzen und Zahlungsausfälle.
Ministerpräsident Viktor Orbán hatte nach seinem Regierungsantritt 2010 alle Gespräche mit dem IWF abgebrochen. Ende 2011 hatte jedoch die Budapester Regierung um Verhandlungen für einen Notkredit gebeten, weil das Land am Rande des Staatsbankrotts stand. Die formellen Gespräche hatten im Juli 2012 begonnen. Der IWF hatte sich in den vergangenen Monaten aus den Verhandlungen mit Ungarn zurückgezogen, weil die Regierung nicht von ihrer Politik abrückte, unter anderem die Banken mit hohen Sondersteuern zu belasten. Die ungarische Regierung deutet die Verhandlungen anders. Die ungarische Regierung hatte „niemals Bedarf“ an einem Kredit der UN-Sonderorganisation, erklärte der ungarische Minister für Nationale Wirtschaft, György Matolcsy. Vielmehr wollte der IWF Ungarn „das Geld aufschwatzen“.
Ungarns Stärken
Ungarn ist ein Transitland mit gutem Infrastrukturangebot sowie Logistikinfrastruktur und gilt als Brückenkopf zu Ost-/Südosteuropa.
Ungarn verfügt über gut ausgebildete und motivierte Arbeitskräfte bei niedrigem Lohnniveau.
Das Land gilt als günstiges Umfeld für Investitionen im verarbeitenden Sektor, allem voran im Kfz-Bau.
Ungarn kann zudem mit einer hohen Produktivität sowie vergleichsweise niedrigen Steuern für kleine und mittlere Unternehmen und höhere Einkommen punkten.
Die Wirtschaft des Landes profitiert von einer engen Verflechtung zu Deutschland, insbesondere Süddeutschland.
Laut Matolcsy steht in Ungarn eine Wachstumswende an. Die Regierung hätte die staatlichen Finanzangelegenheiten geregelt, die Staatsschulden würden verringert. Das Vertrauen Ungarn gegenüber sei gewachsen so Matolcsy. Eine gewagte Prognose.
Die EU-Kommission rechnet nicht damit, dass Ungarn in diesem Jahr ein Wirtschaftswachstum erzielt. Und der IWF stellt laut GTAI fest: „2013 verspricht das BIP in etwa auf Vorjahresniveau zu verharren. Mittelfristig setzt der IWF Ungarns Wachstumspotenzial nur noch mit 1,0 bis 1,5 Prozent jährlich an. Maßgeblich hierfür ist auch die ausgetrocknete Kreditvergabe, zu der die angespannte Lage vor allem einiger Auslandsbanken beiträgt. Die Bruttoanlageinvestitionen sind in Ungarn auf einen historischen Tiefstand gefallen mit Rückgängen um real jeweils 4 bis 5% in den Jahren 2010 bis 2012. Für 2013 prognostizieren das Wirtschaftsinstitut Kopint (Budapest) und die OECD einen Fall um 3 bis 5 Prozent. Die Investitionen werden sich künftig noch stärker auf Anpassungshilfen der EU stützen.“
Die Regierung von Viktor Orbán steht folglich – allen starken Sprüchen aus Budapest zum Trotz – mit dem Rücken zur Wand. Die Europäische Union hat die Trümpfe in der Hand und sollte Druck auf Ungarn ausüben. Treibt die rechtskonservative Regierung das Land weiter in die Isolation, ist der Staatsbankrott nur noch eine Frage der Zeit.