Europäisches Parlament Passen Sie auf Ihr Handy auf, Frau Merkel!

Merkel kommt in eine Institution, die gerade erst von einer neuen Diebstahlwelle erfasst wurde. Quelle: dpa

Eine Serie von Diebstählen erschüttert das Europäische Parlament in Brüssel. Seit Jahren bringt die Volksvertretung die Kriminalität im eigenen Haus nicht in den Griff.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel kam am Mittwoch Nachmittag ins Europäische Parlament nach Brüssel, um in einer Rede ihre Ziele der deutschen Ratspräsidentschaft zu skizzieren und ein Plädoyer für Europa zu halten. Ihre Parteifreundin Ingeborg Gräßle hatte für den Termin im Vorfeld einen guten Tipp für Merkel parat.: „Die Handtasche sollte sie bei sich behalten“, sagt Gräßle. „Im Plenarsaal kann man nur bei Papier sicher sein, dass es nicht weg kommt.“

Gräßle, bis 2019 ein Jahrzehnt lang Europa-Abgeordnete, weiß, wovon sie spricht. Frisch gewählt, erlebte sie, wie ein Sicherheitsmann in ihrem Büro Schränke durchwühlte, als sie abends um kurz vor neun Uhr nochmal dorthin zurückkam. Später verschwanden die Handys eines Mitarbeiters. „Er hat sich sehr lautstark bei den Sicherheitsleuten beschwert.“ Noch am selben Tag tauchten die Handys wieder auf. Über ihr Jahrzehnt im Europa-Parlament sagt Gräßle: „Die Klagen über die Sicherheitslage sind nie abgerissen.“ Merkel kam in eine Institution, die gerade erst von einer neuen Diebstahlwelle erfasst wurde.

Seit dem Beginn des Lockdowns sind Diebe in mindestens 50 Brüsseler Büros von Abgeordneten und Fraktionsmitarbeitern eingebrochen. Es könnten aber auch 100 sein, die genaue Zahl gibt das Europäische Parlament nicht bekannt. Von einem „leichten Anstieg der üblichen Diebstahlquote“ ist die Rede. Parlamentspräsident David Sassoli, ein Sozialdemokrat aus Italien, schweigt zu dem Thema eisern.

Die Opfer sind entsetzt, welche Gleichgültigkeit ihnen entgegen schlägt. „Der Sicherheitsdienst ist noch nicht einmal vorbeigekommen, um sich den Schaden anzusehen“, sagt der grüne Europa-Abgeordnete Martin Häusling, dem ein Laptop aus dem Büro entwendet wurde. Beim Nachbarn aus Lettland fehlt eine Kamera. Nico Semsrott, der ebenfalls der Grünen-Fraktion angehört, fand bereits im Mai seine Schreibtischschublade aufgebrochen vor. Zwei neue Laptops und USB-Sticks fehlen. Vom Sicherheitsdienst bekam Satiriker Semsrott die Auskunft, dass ermittelt würde. Um die Diebe nicht auf die Ermittlungen aufmerksam zu machen, seien die Abgeordneten aber nicht gewarnt worden.

Semsrott geht davon aus, dass gerade einmal zwei Mitarbeiter des Sicherheitsdiensts des Parlaments, im Organigramm unter der schönen Bezeichnung DG SAFE zu finden, mit den Untersuchungen betraut sind. Insgesamt sollen 700 Mitarbeiter in Straßburg und Brüssel für die Sicherheit der Abgeordneten sorgen. Die Ex-Abgeordnete Gräßle bezeichnet die Security-Leute als „wilde Mischung“, teilweise handele es sich um ehemalige Polizisten, die in Brüssel mehr verdienen als in ihren Heimatländern.

Anders als bei den anderen EU-Institutionen sind die Sicherheitsleute im Europäischen Parlament festangestellt. Das soll die Kriminalität im Europäischen Parlament senken, hat aber offensichtlich nicht geholfen. Auslöser für die Festanstellung von Sicherheitskräften war eine Serie von Überfällen, die vor mehr als einem Jahrzehnt begann. 2009 wurde die Filiale der ING-Bank im Erdgeschoss des Europäischen Parlaments in Brüssel überfallen. Es folgten Angriffe auf die Post im Gebäude und einen Geldboten.

Bis heute hält sich in Brüssel hartnäckig das Gerücht, dass Leute des Sicherheitsdiensts an den Taten beteiligt gewesen seien. Das Europäische Parlament tut nichts, um die Gerüchte zu entkräften. Auf die Anfrage, ob die Überfälle jemals aufgeklärt wurden, gibt es keine Antwort.

Auch bei der jüngsten Diebstahlserie haben die Betroffenen den Eindruck, dass es sich bei den Schuldigen um Insider handelt. „Da muss jemand mit dem Generalschlüssel durch die Büros gehen“, sagt Häusling. An seiner Bürotüre seien keine Einbruchspuren zu sehen. Die Verwaltung hat sich bisher aber nicht dazu durchgerungen, die Schlösser auszutauschen.

Sicherheitschef Elio Carozza hat sich bei den Abgeordneten genauso wenig gemeldet wie Parlamentspräsident Sassoli. Beide sind Parteifreunde, Carozza, der DG SAFE seit 2013 leitet, hat erfolglos für einen Sitz im italienischen Senat kandidiert. Abgeordnete versuchen nun herauszufinden, warum sein Vertrag jenseits der Pensionierungsgrenze verlängert wurde.

Diebstahlserien in einem Parlament sind ungewöhnlich. Im Bundestag ist noch in kein einziges Büro eines Abgeordneten eingebrochen worden.

Die langen Gänge, auf denen die Diebe ihr Unwesen treiben, hat Merkel an diesem Mittwoch nicht zu Gesicht bekommen. Vom Eingang für VIPs in der Rue Wiertz wurde sie direkt in die Protokollräume neben dem Plenarsaal im dritten Stock geleitet. Die frühere Abgeordnete Gräßle rät aber auch im Plenarsaal auf jeden Fall zur Wachsamkeit. „Falls man dort etwas liegen lässt, muss man es sofort abschreiben.“

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