Europas größtes Ego Jean-Claude Junckers verheerende Bilanz

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker: Europas größtes Ego

Seit Jahrzehnten mimt Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker den ganz großen Superstaatsmann. Doch mit seiner Selbstgerechtigkeit schadet er dem europäischen Projekt.

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Jedes Wort zählt. Zeile für Zeile gehen Mitarbeiter von Jean-Claude Juncker den Resolutionsentwurf des Europäischen Parlaments durch und fordern Änderungen. Bei Punkt 18 etwa soll nicht mehr stehen: „Die zweistufige Ernennung des Generalsekretärs stellt eine putsch-artige Aktion dar.“ Stattdessen möge es doch heißen, die Beförderung werde wie ein Coup „wahrgenommen“. Die Emissäre des EU-Kommissionspräsidenten ergänzen die Verbesserungswünsche Anfang der Woche in Brüssel mit einem wenig dezenten Hinweis: Juncker werde sein Amt hinwerfen, sollte der Ton der Resolution so harsch wie bisher bleiben.

Am Mittwoch werden die Abgeordneten über das Dokument abstimmen. Darin werfen sie Juncker vor, mit der Schnellbeförderung seines engsten Mitarbeiters Martin Selmayr das Recht gedehnt, wenn nicht gebrochen zu haben. Verfasst hat die Analyse eine Parteifreundin Junckers, die CDU-Europaabgeordnete und Vorsitzende des Haushaltskontrollausschusses, Inge Gräßle. Sie kommt in diesen Tagen kaum dazu, nachträglich auf ihren Geburtstag anzustoßen, weil sich Dauertelefonate und Marathonsitzungen abwechseln. „Juncker ist der ausgefuchsteste Politiker, der mir je an der Kommissionsspitze begegnet ist“, sagt Gräßle. Sie will Juncker nicht stürzen. Wohl aber ein Zeichen setzen, dass der 63-Jährige nicht nur das Vertrauen in ihn, sondern auch das Vertrauen der Bürger in die EU aufs Spiel setze.

Selten hat eine Personalie in Brüssel für so viel Wirbel gesorgt. Innerhalb von nur neun Minuten wurde Kabinettschef Selmayr in einer Sitzung der Kommission erst zum Vize-Generalsekretär der Behörde, sodann zu ihrem Generalsekretär befördert. Seitdem ist er ihr mächtigster Beamter. Und die Aufregung groß: Als „skandalös“ bezeichnet einer von Gräßles Fraktionskollegen den Karrieresprung ohne Ausschreibung. Und ein Beamter fragt: „Wie sollen wir Polen künftig Lektionen in Rechtsstaatlichkeit erteilen?“ Seit fast zwei Monaten gelingt es Juncker nicht, das Thema auszusitzen – weil es um mehr geht als um die Beförderung eines tüchtigen, ehrgeizigen Beamten, der den Job seines Chefs in Teilen miterledigt. Genauer: weil es um Juncker selbst geht.

Juncker ist Europas größtes Problem

In der Causa Selmayr entlädt sich jahrelang aufgestauter Zorn über den dünkelhaft-selbstgefälligen Politikstil des Ober-Europäers. „Eine von Junckers Schwächen liegt darin, dass er glaubt, immer recht zu haben“, sagt einer, der seit Jahren eng mit ihm zusammenarbeitet. Dass er Europaskeptikern in die Hände spielt, wenn die EU-Institutionen wie Selbstbedienungsläden wirken – das will er nicht verstehen. Hinzu kommt: Junckers wirtschaftspolitische Bilanz ist bescheiden. Der reichste Wirtschaftsraum der Welt ist durch sein Desinteresse an ökonomischen Fragen nicht gerade stärker geworden.

In seiner eigenen Wahrnehmung arbeitet Juncker unermüdlich am Großprojekt Europa. Sein Selbstverständnis speist sich aus mehr als zwei Jahrzehnten Arbeit im Dienst der Sache: „Niemand sagt: Gut gemacht, Juncker“, klagt er gern, nennt sich selbst einen „Europaveteranen“ und einen „Überzeugungstäter“.

Und tatsächlich: Als Kompromiss-Schmied zwischen Deutschland und Frankreich begann er seine Karriere. 1996 vermittelte er im Streit darüber, wie streng der sogenannte Stabilitätspakt ausgelegt werden solle. Es war Juncker, der den Kompromiss einfädelte, nach dem jeder Einzelfall geprüft werden muss. Der Rest ist Geschichte: Der Stabilitätspakt wurde in den vergangenen 20 Jahren zigfach und folgenlos verletzt. Als Juncker 2014 an die Spitze der EU-Kommission rückte, kündigte er an, dass er die Behörde „politisch“ führen werde. Mit den Worten „Weil es Frankreich ist“ erklärte er, warum seine Kommission beim Haushaltsschlendrian der Pariser Regierung ein Auge zudrücke. Zugleich ließ er durchblicken, dass große EU-Länder ohnehin keine Sanktionen zu befürchten hätten.

In Sachen Wirtschaft fehlt Juncker – 20 Jahre Finanzminister in Luxemburg, acht Jahre Euro-Gruppen-Präsident – ein ordnungspolitischer Kompass. „Juncker und Selmayr sind beide Juristen und haben keinen Sinn für Ökonomie“, sagt ein hoher EU-Beamter. Ein Indiz: Junckers Industriepolitik. „Wir müssen den Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt der EU, der heute nur knapp 16 Prozent beträgt, bis 2020 wieder auf 20 Prozent steigern“, forderte er bei seiner Antrittsrede im Europäischen Parlament. Diese Ansage beweist Unkenntnis. Der Anteil der Industrie an der Wirtschaftsleistung ist in den vergangenen 30 Jahren überall auf der Welt zurückgegangen, weil ihre Produktivität gestiegen ist. Eine Umkehr? Wenig wünschenswert.

Ach, diese Wirtschaft

Bei der großen Reform des Euro, über die Staats- und Regierungschefs in diesem Sommer entscheiden sollen, geht es Juncker vor allem um mehr Einfluss für die EU-Kommission. Eine Stärkung der Gemeinschaftswährung etwa durch einen anderen Umgang mit Staatsanleihen? Fehlanzeige.

Die größte Schwäche seiner Wirtschaftspolitik verdeutlicht allerdings ein verwahrloster Binnenmarkt. Mitgliedstaaten haben in den vergangenen Jahren nationale Schranken aufgebaut, doch die Kommission ging nur selten dagegen vor (WirtschaftsWoche 40/2017). Erst in dieser Woche hat die EU-Kommission eine Richtlinie gegen unlauteren Wettbewerb vorgelegt, die es Mitgliedstaaten erleichtert, ausländische Einzelhändler auszusperren.

Dagegen fallen persönliche Allüren kaum noch ins Gewicht: Eigentlich herrscht im Berlaymont-Gebäude, der Schaltzentrale der Kommission, Rauchverbot. Doch Kettenraucher Juncker ließ in seinem Büro einfach den Rauchmelder abkleben, um weiter ungestört seiner Sucht nachgehen zu können.

Wer seinen Landsmann Juncker verstehen wolle, sagt der luxemburgische Europaabgeordnete Claude Turmes, müsse seinen Ziehvater Helmut Kohl studieren: „Dem waren Männerfreundschaften wichtiger als die deutsche Verfassung.“ Kohl habe in der Spendenaffäre keine Reue gezeigt. Und auch Juncker könne keine Fehler eingestehen. Als eine seit Langem schwelende Geheimdienstaffäre 2013 seine 18 Jahre währende Regentschaft als Luxemburgs Premier beendete, bedauerte Juncker nicht etwa, dass ihm die Kontrolle über seine Agenten entglitten war. Stattdessen fühlte er sich von seinem Koalitionspartner verraten. Der Luxemburger Journalist Christoph Bumb nennt das eine „kleine Dolchstoßlegende“.

Wie den meisten narzisstisch veranlagten Menschen gelingt es Juncker jedoch immer wieder, andere für sich einzunehmen. Wie Anfang März beim traditionsreichen Matthiae-Mahl im Hamburger Rathaus. Der damalige Erste Bürgermeister der Stadt, Olaf Scholz, und der frühere Außenminister Joschka Fischer, hielten lustlose Reden; erst weit nach 22 Uhr, der Hauptgang war schon abgeräumt, sorgte Juncker für Stimmung im Festsaal. Binnen einer Minute brachte er die mehr als 400 Gäste gleich dreimal zum Lachen. Er setzte eine kleine Spitze gegen den Gastgeber, der auf dem Sprung als Bundesfinanzminister nach Berlin war („Ich bin gerne hier, nicht nur, weil ich der letzten Amtshandlung des Ersten Bürgermeisters beiwohnen wollte“), machte einen Witz auf eigene Kosten („Nun gibt es diese Mahlzeit seit 662 Jahren ... Ich habe mich eigentlich gewundert, wieso ich so lange warten musste, bevor ich endlich hier eingeladen wurde“) und lästert über seine Arbeitsbedingungen („Der Unterschied zwischen der Hamburger Pracht und dem Brüsseler Ikea-Ambiente ist wirklich zu groß“). Der Applaus war dementsprechend: lang und dankbar.

An jenem Abend in Hamburg bekam das Publikum den Juncker mit dem Rock’n’Roll-Effekt zu sehen. An anderen Tagen tritt jedoch der Juncker mit dem Schock-Effekt auf. So wie kürzlich vor den handverlesenen Gästen, die sich im Brüsseler Aloft Hotel versammelten, um einen hohen EU-Beamten in den Ruhestand zu verabschieden. Auf den Neurentner, der Juncker als Euro-Gruppen-Chef in den Krisenjahren den Rücken frei gehalten hatte, wurde gerade angestoßen, als der Kommissionspräsident nach hinten wegzukippen drohte. Aber natürlich war Selmayr zur Stelle und stützte seinen Chef so diskret wie möglich. Nach den Ansprachen bugsierte er ihn auf einen Stuhl. Im Saal kreuzten sich betretene Blicke.

War Juncker krank? Wer andere Probleme suggeriert, dem droht ewige Feindschaft. Als der damalige Euro-Gruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem 2014 in einer TV-Show Juncker als „eingefleischten Raucher und Trinker“ bezeichnete, dementierte der Luxemburger entschieden. Dass Dijsselbloem ausgesprochen hatte, was viele denken, musste er teuer bezahlen: Den Posten des Währungskommissars, auf den er damals gehofft hatte, bekam er nicht.

Junckers eigene Amtszeit läuft noch bis Oktober 2019. Bis zum Mai kann er noch neue Gesetzesinitiativen auf den Weg bringen, wenn sie eine Chance auf Umsetzung haben sollen. Das Endspiel hat begonnen. Oder, um es mit den Worten eines Brüsseler Insiders zu sagen: „Jetzt geht es darum, das Ganze mit Anstand zu Ende zu bringen.“

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