Der Nationalstaat, das war und ist unter den Wohlmeinenden in Deutschland fast schon Konsens, ist ein politisches Auslaufmodell. Er mag noch, so denken die bien-pensants der aufgeklärten Öffentlichkeit, für eine begrenzte Zeit eine gewisse Rolle spielen, um unterhalb des Dachs der EU mit begrenzten Mitteln Kultur- und Bildungspolitik zu betreiben. Aber durch die Herausforderungen der Globalisierung, zu denen auch eine, wie man meint, permanente und nicht mehr lenkbare Massenimmigration gehört, sei er überfordert, und werde sich früher oder später auflösen.
In Deutschland ist diese Haltung besonders stark verbreitet, weil mit dem Dritten Reich der 1870 begründete Nationalstaat ohnehin gescheitert zu sein schien. Aber auch in vielen westeuropäischen Ländern findet man diese Einschätzung in maßgeblichen Kreisen. Deutlich seltener allerdings in Ost- und Ostmitteleuropa.
Freilich ist die Gewissheit, man könne das Zeitalter des Nationalstaats schon bald geräuschlos beenden, in jüngster Zeit doch deutlich erschüttert worden. Der Euro, der die EU mittelfristig zu einem wirklichen Bundesstaat werden lassen sollte, hat nicht zu mehr Einigkeit, sondern zu mehr Streit geführt. Großbritannien, immerhin eines der größten Länder der EU, hat sich überdies entschlossen, die Gemeinschaft zu verlassen. Das kann man als eine Fehlentscheidung sehen, mit der sich die Briten vor allem selbst geschadet haben, aber es bleibt bemerkenswert, dass jenseits des Kanals der Nationalstaat für einen großen Teil der Bevölkerung als Ordnungsmodell attraktiv genug ist, um erhebliche wirtschaftliche Verwerfungen in Kauf zu nehmen, wenn es um die Wiederherstellung nationaler Souveränität geht. In diesem Punkt sind sich die schottischen Nationalisten übrigens mit den englischen Brexiteers einig, nur wollen sie eben einen schottischen Nationalstaat und keinen britischen.
Der Nationalstaat ist ein recht spätes Produkt der europäischen Geschichte. Vor dem 19. Jahrhundert finden wir als dominante Form politischer Organisation vor allem kulturell und ethnisch heterogene dynastische Großreiche und daneben kleinere fürstliche Herrschaften und einige wenige, zum Teil föderal strukturierte Republiken, aber eben keine Nationalstaaten im modernen Sinne. Dies ändert sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, jedenfalls gilt dies für die meisten europäischen Länder, für Deutschland und Italien und erst recht für Ost- und Ostmitteleuropa, wo die heutigen Nationalstaaten zum Teil erst nach 1918 entstanden sind. In einigermaßen gefestigter Form sogar erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Es gibt allerdings zwei prominente Ausnahmen: England und Frankreich. England besaß schon im späten Mittelalter ein einheitliches Rechtssystem und eine Ständeversammlung, die das ganze Land politisch wirksam repräsentierte. Die Reformation und der Kampf gegen katholische Mächte, die sie bedrohten, schufen dann zusätzlich ein englisches Nationalbewusstsein. In diesem wurden Protestantismus und politische Freiheit seit dem späten 17. Jahrhundert fast zu Synonymen.
Frankreich blieb bis zur Revolution 1789 administrativ und zum Teil auch kulturell sehr viel heterogener als England. Aber auch hier bot die Nation, deren wichtigster Identitätskern die Krone und die Königsdynastie waren, zumindest für die sozialen Eliten eine wichtige Identifikationsmöglichkeit, die in Krisen ausschlaggebende Bedeutung haben konnte. So gab es in der Endphase der französischen Religionskriege in den 1590er Jahren selbst unter überzeugten Katholiken nur relativ wenige, die bereit gewesen wären, ernsthaft einen Spanier oder eine Spanierin als Monarchen zu akzeptieren, um auf diese Weise den französischen Protestanten Heinrich von Bourbon von der Thronfolge auszuschließen.
Die relativ weitgehende Ausbildung zumindest von Vorformen des modernen Nationalstaates in England und Frankreich vor 1789 ist wichtig, da die Entwicklung zum modernen parlamentarischen und später auch demokratischen Verfassungsstaat im übrigen Europa nach 1800 maßgeblich durch das Vorbild dieser beiden Länder geprägt wurde.
Nationalstaat als reine Konstruktion? Wohl kaum
Vielen Publizisten, aber auch Sozialwissenschaftler behaupten, dass nationale Identitäten rein fiktiv seien. Die kulturelle Homogenität des Nationalstaates habe es nie gegeben und auch die historischen Narrative, die einer Nation eine besondere historische Mission oder Legitimität zuschreiben wollen und das nationale Wir überhaupt erst schaffen, seien nur rhetorische Diskurse. Man könne sie jeder Zeit dekonstruieren.
Auf den ersten Blick hat diese Kritik gute Argumente auf ihrer Seite. Aber zum einen sind die Erzählungen, die Nationalstaaten legitimieren, eben doch nicht ganz willkürlich gewählt. Man mag die Selbstdarstellung Polens als ewige Opfernation für einen Mythos halten, aber dass dieses Narrativ mit Blick auf das Schicksal des Landes zwischen dem späten 18. Jahrhundert und 1945 eine gewisse Berechtigung hat, lässt sich dennoch kaum bestreiten.
Zum anderen, darauf hat der englische Philosoph Roger Scruton hingewiesen, glaubt man an die großen nationalen Meistererzählungen nicht in erster Linie deshalb, weil sie streng wissenschaftlich beweisbar sind. Man glaubt daran, weil ein schon vorhandenes Gemeinschaftsgefühl der Bestätigung und der Verstärkung durch solche Narrative bedarf, die allerdings ein Minimum an Plausibilität aufweisen müssen.
Sie können dann freilich auch an ein verändertes nationales Selbstverständnis angepasst werden. So sind die alten Erzählungen von imperialer Größe in England heute politisch kaum noch relevant. An ihre Stelle ist dafür zum Teil die Erinnerung an die Abschaffung des Sklavenhandels oder an den siegreichen Kampf für die Gleichberechtigung der Arbeiter und der Frauen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert getreten, so wie der heute dominante deutsche Nationalmythos derjenige einer, wenn auch verspäteten und erst nach 1945 einsetzenden, dafür jedoch umso radikaleren Befreiung von den Irrwegen der eigenen Geschichte ist.
Nun ließe sich argumentieren, dass man heute solche Narrative, egal wie konstruiert, einfach nicht mehr benötige, weil wir alle Kosmopoliten sind oder zumindest sein sollten. Indes zeigt nicht zuletzt die gegenwärtige Krise der EU: Ein politisches System, das keine großen Erzählungen mit historischer Tiefendimension besitzt, die ein Zusammengehörigkeitsgefühl festigen können, bleibt eben doch fragil. Sicher beruft sich die EU immer wieder auf ihren einen großen Gründungsmythos: dass sie einem Europa, das sich durch Kriege selbst zerstörte, den Frieden geschenkt habe.
Nach der Nation könnten Ethnie und Religion zurückkehren
Aber die affektive Kraft dieser Meisterzählung ist offenbar nicht groß genug. Dies gilt schon deshalb, weil die historischen Erfahrungen, die ihr in den einzelnen Nationen entsprechen, einfach zu unterschiedlich sind. Ob ein Land vor 1945 unter deutscher Besatzung stand, oder sich dieser wie England im Kampf entziehen konnte, oder gar mit Deutschland verbündet war, wie Ungarn oder Finnland, lässt den Zweiten Weltkrieg jeweils in einem ganz anderen Licht erscheinen. Vom deutschen Sonderfall, in dem die Erinnerung an eine vollständige militärische Niederlage sich mit der an Verbrechen verbindet, die jedes Vorstellungsvermögen übersteigen, einmal ganz abgesehen.
Es bleibt daher unwahrscheinlich, dass die EU in absehbarer Zeit jenen Zusammenhalt entwickeln wird, den Nationalstaaten zumindest in der Vergangenheit besaßen. Nationen und die Narrative, die sie legitimieren, mögen immer ein Stück weit Konstruktionen sein, aber Bausteine etwa in Form wirklicher historischer Erfahrungen, mögen diese nun mit großen Opfern verbundene Siege oder traumatische politische, wenn nicht sogar moralische Niederlagen sein (auch Niederlagen können Identität stiften), braucht man für solche Konstruktionen eben doch. Die rein voluntaristische Setzung reicht nicht aus, wie man an den mehr oder weniger künstlichen und eben deshalb überaus fragilen Nationalstaaten Afrikas oder des Mittleren Ostens sehen kann.
Diese Einsicht widerspricht natürlich dem reinen Konstruktivismus, der heute vor allem in den Sozial- und Literaturwissenschaften vorherrscht. In diesen Disziplinen würde man die Wirklichkeit gern in dem aufgehen lassen, was man mit Hilfe der eigenen Methoden beliebig entwerfen und wieder dekonstruieren kann. Damit kann man nicht nur sich selbst ein Stück weit schöpferische Fähigkeiten zuschreiben, sondern auch dem Menschen neue Identitäten erzieherisch vermitteln, die den eigenen ideologischen Wertvorstellungen entsprechen. Studien zu Geschlechterrollen, denen, wie man meint, jede natürliche Grundlage fehle, bieten dafür ja hinreichend Beispiele.
Darüber hinaus bleibt aber die Frage, ob wir uns das Ende der Nationalstaaten in einer Epoche, in der diese zumindest in West- und Mitteleuropa ihr Aggressionspotential weitgehend verloren haben, überhaupt wünschen sollten. Zumindest den beiden großen Nationalstaaten in Westeuropa, Großbritannien und Frankreich, gelang es im späten 19. und im 20. Jahrhundert trotz aller inneren Spannungen eine gemeinsame politische Identität für alle Bürger zu schaffen. Diese ließ religiöse und ethnische Unterschiede zwar nicht verschwinden, aber relativierte sie so weit, um ihnen am Ende ihre zerstörerische Brisanz zu nehmen. Das öffentliche Schulwesen, das eine gemeinsame Hochkultur vermittelte oder überhaupt erst schuf, leistete dazu ebenso seinen Beitrag wie die in Frankreich in der Dritten Republik radikal vollzogene Säkularisierung des Staates.
Neun Klischees über die EU – und die Wahrheit dahinter
Die EU gilt vielen als Verwaltungsmoloch. Mit rund 33.000 Mitarbeitern beschäftigt die EU-Kommission in etwa so viele Menschen wie die Stadtverwaltung München.
Seit der Einführung direkter Europawahlen 1979 hat das EU-Parlament deutlich mehr Einfluss gewonnen. Die Abgeordneten bestimmen über die meisten Gesetze mit, haben das letzte Wort beim Haushalt und wählen den Kommissionspräsidenten.
Deutschland leistet den größten Beitrag zum EU-Haushalt. 2012 zahlte Berlin netto 11,9 Milliarden Euro. Gemessen an der Wirtschaftsleistung sind Dänemark oder Schweden aber noch stärker belastet.
Zehn Jahre nach der Osterweiterung erweist sich die Angst vor dem „Klempner aus Polen“ als unbegründet. Stattdessen wächst die Wirtschaft in den neuen Mitgliedstaaten.
Neue Sanktionen gegen Russland beweisen: Die EU spielt eine Rolle in der Ukraine-Krise - ebenso wie bei anderen Krisenherden in aller Welt. Den EU-Staaten fällt es dennoch oft schwer, in der Außenpolitik mit einer Stimme zu sprechen.
Bereits seit 2009 abgeschafft, lastet die „Verordnung (EWG) Nr. 1677/88“ noch wie ein Fluch auf Brüssel. Die Vorschrift setzte Handelsklassen für das grüne Gemüse fest und gilt als Paradebeispiel für die Regulierungswut von Bürokraten.
In diesem Jahr verfügt die EU insgesamt über mehr als 130 Milliarden Euro. Das ist viel Geld, entspricht aber nur rund einem Prozent der Wirtschaftsleistung der Staaten.
Die Landwirtschaft macht einen sehr großen, aber kleiner werdenden Teil des EU-Haushalts aus. Der Agrar-Anteil am Budget ist in den vergangenen 30 Jahren von 70 auf 40 Prozent geschrumpft.
Die EU-Abgeordneten erhalten monatlich zu versteuernde Dienstbezüge von 8020,53 Euro. Hinzu kommen stattliche Vergütungen etwa für Büros, Mitarbeiter und Reisen. Ein Bundestagsabgeordneter erhält 8252 Euro, ebenfalls plus Zulagen.
In postnationalen Zeiten wird es damit womöglich rasch vorbei sein. Ethnische oder religiöse Identitäten werden dann wieder ausschlaggebend sein, so wie sie es bis vor kurzem in Nordirland oder in den 1990er Jahren auch auf dem Balkan waren. In Länder wie Syrien und der Irak, wo die postkolonialen Nationalstaatsbildungen wohl endgültig gescheitert sind, ist das heute wieder der Fall. Ganz ohne ein „Wir“, dem sie sich zurechnen, scheinen die meisten Menschen dann eben doch nicht auszukommen.
Ob man sich eine solche postnationale Welt wirklich wünscht, darüber sollte man wohl doch noch einmal gründlich nachdenken. Denn die Gefahr ist groß, dass sie am Ende nicht von friedlichen Kosmopoliten besiedelt sein wird, die eine unendliche kulturelle Vielfalt gelassen genießen, sondern von religiösen Sektierern und erbitterten Vorkämpfern ethnischer und kultureller Exklusivität, die nun zwar nicht mehr auf nationaler Ebene aber sehr wohl im eigenen Wohnviertel und im persönlichen Umfeld durchgesetzt wird. Wie schon der amerikanische politische Denker Michael Walzer einmal zutreffend festgestellt hat: Wenn Staaten wie bloße Nachbarschaften werden, dann werden Nachbarschaften am Ende womöglich kleine Staaten.