




Es war eine jener Meldungen, bei der es nicht darauf ankam, ob sie sich als richtig oder falsch herausstellen sollte. Ende Januar berichtete die britische Tageszeitung „Telegraph“ über geheime Pläne der EU, Autos künftig mit einer Fernbedienung auszustatten. Die Polizei sollte damit jeden Wagen stoppen können, um Verdächtige an der Flucht zu hindern. Was abenteuerlich klingt, hat einen wahren Kern. Polizisten, allen voran britische, machen sich seit geraumer Zeit für eine entsprechende Technologie stark und haben das in einer europäischen Arbeitsgruppe zu Protokoll gegeben.
Dem Projekt fehlt bisher allerdings die politische Unterstützung, und die EU-Kommission ist weit davon entfernt, einen konkreten Vorschlag vorzulegen. Von einem geheimen EU-Plan zu sprechen, ist somit etwas verwegen.
Die Radikalen stehen vor ihrem größten Wahlerfolg
Für jemanden wie den Euro-Skeptiker Nigel Farage, Parteichef von der britischen United Kingdom Independence Party (Ukip), stellt jedoch auch eine solche Halbwahrheit die perfekte Munition dar, passt sie doch perfekt in das Bild vom Superstaat Europa, der den Alltag seiner Bürger kontrolliert und sich in immer neue Lebensbereiche einschleicht. Farage empörte sich über den „unglaublichen“ Vorgang und empfahl: „Die Menschen müssen sich gegen diesen Angriff auf ihre Freiheit wehren und bei der Europawahl im Mai gegen den Big-Brother-Staat der EU wählen.“
Aufforderungen dieser Art werden die Europäer in den kommenden Monaten noch häufiger bekommen. Anti-Establishment-Gruppen und Euro-Skeptiker am linken und rechten Rand des Parteienspektrums stehen vor dem größten Wahlerfolg in der Geschichte Europas. Der Luxemburger Jean-Claude Juncker, aussichtsreicher Anwärter für die Spitzenkandidatur bei der konservativen Europäischen Volkspartei, ist sich sicher: „Die Radikalen werden 25 Prozent der Stimmen bekommen.“
Dabei sollte die Wahl im Mai nach dem Willen der eingefleischten Europäer eine ganz besondere werden. Erstmals treten die Parteien mit Spitzenkandidaten an, die Europa zu einem Gesicht verhelfen sollen. Von einem Quantensprung war oft die Rede, weil der Vertrag von Lissabon die Spielregeln verändert hatte. Martin Schulz, Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten, spricht gar von einem „Meilenstein der Demokratie“.
Die Wahl könnte nun aber aus einem anderen Grund eine ganz besondere werden: Weil es mehr als je zuvor tatsächlich um Europa gehen wird. Politologen haben für die bisherigen sieben europäischen Wahlgänge den Begriff von der „Nebenwahl“ geprägt, bei denen die Bürger nicht das Gefühl hatten, dass sie mit ihrer Stimme eine Partei an die Macht bringen. Oft haben Wähler den europäischen Urnengang genutzt, um der nationalen Regierung einen Denkzettel zu verpassen. Immer häufiger fanden die Bürger nicht einmal den Elan, überhaupt zu wählen. 2009 lag die Wahlbeteiligung in Deutschland bei gerade einmal 43 Prozent, was dem EU-Durchschnitt entsprach.
Skeptiker zwingen das Parlament zur Stellungnahme
Zwar hat in Griechenland der Chef der linken Syriza, Alexis Tsipras, die Europawahl zum „Referendum“ über die regierende Koalition von Konservativen und Sozialisten ausgerufen. Und in Frankreich möchte Marine Le Pen vom Front National die Europawahl auch zum Volksentscheid gegen Staatspräsident François Hollande stilisieren. Doch mit ihren harten Attacken gen Brüssel zwingen die Euro-Skeptiker automatisch das dortige Establishment, Stellung zu beziehen, welches Europa noch Zukunft hat. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hat bereits klar zu verstehen gegeben, dass er das Wahlergebnis als Votum über alle EU-Institutionen versteht, nicht nur über das Europäische Parlament: „Die Bürger in ganz Europa werden ihr Urteil über unsere Arbeit der letzten fünf Jahre abgeben.“
Gründe, warum das Urteil vernichtend ausfallen dürfte, gibt es reichlich. Hohe Arbeitslosigkeit, niedriges Wachstum und die Euro-Krise haben das Ansehen von Politik und Institutionen spürbar beschädigt. Vertrauten Anfang 2009 noch 47 Prozent der Europäer der EU, ist dieser Wert mittlerweile auf 31 Prozent eingebrochen. Die EU wird als wild gewordene Regulierungsmaschine wahrgenommen, die zu viel Bürokratie erzeugt. 85 Prozent der Deutschen bekräftigten diese Aussage in einer Umfrage der EU-Kommission. In anderen Ländern ist die Wahrnehmung kaum besser, im Schnitt stimmten beinahe drei von vier EU-Bürgern der Aussage zu.