




An einem Donnerstag Ende März wurde Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble um 5.30 Uhr aus dem Bett geklingelt. Der Anruf kam aus Brüssel; Schäuble möge bitte einen Kompromissvorschlag zur Bankenabwicklung so schnell wie möglich absegnen. Zu früher Morgenstunde machte sich Schäuble an die Arbeit und signalisierte anderthalb Stunden später seine Zustimmung.
Die ganze Nacht über hatten zuvor Unterhändler des EU-Parlaments mit Vertretern von EU-Staaten und Kommission um einen Deal für das letzte Element der Bankenunion gerungen. Am Schluss mussten die Mitgliedstaaten, allen voran Deutschland, von mehreren Positionen abweichen. Der deutsche Grünen-Europaabgeordnete Sven Giegold sprach von „einem großen Sieg für das Parlament“.
Giegold bezog sich auf die inhaltlichen Änderungen, die die Abgeordneten auf den letzten Metern durchsetzten, etwa eine frühere Vergemeinschaftung des Abwicklungsfonds und schlankere Entscheidungsstrukturen. Der eigentliche Erfolg des Parlaments war an jenem Tag jedoch ein machtpolitischer: Die Abgeordneten machten klar, dass sie nicht alles durchwinken, was die Finanzminister vorher der Öffentlichkeit als beschlossene Sache verkaufen.
Für die Abgeordneten war es eine späte Genugtuung in einer Legislaturperiode, die seit 2009 von Nacht-, Eil- und Krisensitzungen geprägt war, bei denen die Volksvertreter nicht mit an den Tisch gebeten wurden. 997 Rechtsakte haben die Abgeordneten zwischen 2009 und 2014 verabschiedet, aber an vielen Tagen blickte die Weltöffentlichkeit ausschließlich auf das Ratsgebäude Justus Lipsius in Brüssel, wo Finanzminister Rettungspakete schnürten oder die Staats- und Regierungschefs herbeieilten, um den Euro zu stützen. Das Parlament war am unmittelbaren Krisenmanagement nicht beteiligt.
Es ist schon paradox: Nie war das EU-Parlament formal so mächtig wie in der ablaufenden Legislaturperiode. Trotzdem mussten die Europaabgeordneten kämpfen, um nicht an den Rand des Geschehens gedrängt zu werden. Diese kuriose Konstellation entsteht durch zwei Effekte, die sich überlagern. Einerseits hat der Vertrag von Lissabon dem Parlament 2009 über 40 neue Aufgabengebiete zugeschrieben, von der Landwirtschaft bis zur Raumfahrtpolitik. Nur noch rund fünf Prozent aller Themen können die Mitgliedstaaten seitdem ohne Mitwirkung der Abgeordneten entscheiden. Das beherrschende Thema der vergangenen fünf Jahre, die Euro-Krise, fällt aber genau in diesen Bereich. Rettungsprogramme, den vorläufigen Hilfsfonds EFSF und seinen Nachfolger ESM beschlossen die Länder, ohne die Abgeordneten konsultieren zu müssen. Das Parlament durfte über Austeritätspolitik debattieren, realen Einfluss hatte es nicht.
Anders als die EU-Kommission haben sich die Europaabgeordneten aber nicht damit abgefunden, dass die Mitgliedstaaten in der Krise den Ton angaben. Wo es ging, haben sie versucht, Terrain zu gewinnen. Bei der Bankenunion ist es ihnen gelungen. Formaljuristisch hätten die Abgeordneten nur über einen Nebenaspekt der Bankenaufsicht abstimmen dürfen. Doch die Volksvertreter erklärten, dass sie das Gesetzesvorhaben nur bearbeiten würden, wenn sie auch über das Kernvorhaben der gemeinsamen Bankenaufsicht abstimmen dürften. Das Junktim funktionierte, die Mitgliedstaaten gestanden den Abgeordneten bei beiden Dossiers ein Mitspracherecht zu. Im Laufe der Verhandlungen stellte das Parlament sicher, dass die europäische Bankenaufsicht künftig den Europaabgeordneten rechenschaftspflichtig ist. Selbst dass mit Danièle Nouy eine Frau an die Spitze der Bankenaufsicht berufen wird, kann das Parlament als seinen Erfolg verbuchen. In der Vergangenheit hatten die Abgeordneten die männliche Übermacht in der Europäischen Zentralbank beklagt.