Und so zerbröselte die Fraktion der gemäßigten Europakritiker namens „Europa der Freiheit und Demokratie“ (EFD) auch während der vergangenen Legislaturperiode. Zuerst nahmen einige Mitglieder von Farages UKIP reißaus, weil sie die Fraktion entweder nicht radikal genug oder zu radikal fanden. Auch einige Mitglieder der italienischen „Lega Nord“ verließen die Fraktion, dafür kamen die Abspaltungsfreunde von der belgischen Partei „Vlaams Belang“ hinzu. Heute sagt Farage: „Die bestehende Fraktion wird es so nach der Wahl sicher nicht mehr geben.“ Die Nationalisten von der Lega Nord will er eigentlich loswerden, die AfD gerne aufnehmen.
Vor allem aber spiegeln diese verworrenen Verhältnisse eine europäische Selbstverständlichkeit wider, an die man sich im Populismus-Neuland Deutschland erst gewöhnen muss: die Stabilität im Chaos. Wenn hierzulande über die AfD gesprochen oder geschrieben wird, dann werden Parteiaustritte oder gegenseitige Beschimpfungen als Beleg dafür gedeutet, dass die Partei Probleme habe. Nur wenn sie sich bald auf eine Linie einige, werde sie Erfolg haben. Dabei zeigt der Blick nach Großbritannien, dass es keineswegs so kommen muss. Die Politiker der UKIP streiten sich andauernd, die Drohung mit dem Parteiaustritt ist hier ein so selbstverständliches Stilmittel wie das „vollste Vertrauen“ im deutschen Parteienmainstream. Trotzdem hat die UKIP gute Chancen, bei der Wahl im Mai Tories und Labour-Party zu übertrumpfen. Und wieder liefert Farage eine treffende Analyse, die ziemlich exakt auf die AfD zutrifft: „Die Medien versuchen uns Europaskeptiker auszublenden.“ Deshalb gilt: „Je mehr euch die Medien angreifen, desto besser macht ihr eure Arbeit“, unterstreicht Farage, der bewusst ausblendet, dass sich UKIP (und auch die AfD wird natürlich nicht nur runtergeschrieben) wie bereits erwähnt großer Beliebtheit in den Boulevardzeitungen erfreut. Hinter den Worten des britischen Populisten steckt eine widersprüchliche Dialektik, die aber gerade durch diese Widersprüchlichkeit so machtvoll wird:
Schritt 1: Wir sind diejenigen, die das aussprechen, was verpönt, aber wahr ist.
Schritt 2: Wir streiten uns, die Medien berichten darüber.
Schritt 3: Das zeigt, dass die Medien nur einen Keil zwischen uns treiben wollen.
Schritt 4: Wir halten zusammen.
Auf diese Weise ist es manchen Parteien wie der UKIP oder der FPÖ gelungen, eine populistisches Perpetuum Mobile zu erschaffen, das sich immer wieder dadurch selbst befeuert, dass es aus internen Streitereien neue Kraft gewinnt. Auf diese Weise dürfte der Streit über die Annäherung von AfD und UKIP ebenfalls der AfD nützen. Diejenigen, die eine solche Annäherung befürworten, sehen sich durch Teile der Partei um den NRW-Spitzenmann Marcus Pretzell bestätigt.
Das Europawahl-Programm der Parteien
Die CDU setzt mit dem früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten David McAllister als deutschem Spitzenkandidaten den Schwerpunkt auf Wirtschaft und Finanzen. Sie will den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM und das Konzept „Hilfe zur Selbsthilfe“ erhalten. Eine Vergemeinschaftung der Schulden wird weiter abgelehnt. „Armutswanderung“ in soziale Sicherungssysteme soll verhindert werden. Bürokratie für kleine und mittlere Unternehmen soll abgebaut und mehr Bürgernähe durch eine Vereinfachung der EU-Gesetzgebung geschaffen werden. Eine Vollmitgliedschaft der Türkei wird abgelehnt.
Die CSU übt inhaltlich wie personell den Spagat zwischen Anti-Brüssel-Propaganda und Bekenntnissen zu Europa: CSU-Vize Peter Gauweiler bedient die Europagegner und soll die AfD neutralisieren, der offizielle Spitzenkandidat Markus Ferber steht für die proeuropäische Seite. Forderungen sind die Rückgabe nationaler Kompetenzen, Bürokratieabbau, die Verkleinerung der Kommission und die Einführung von Volksentscheiden in Deutschland über wichtige Europafragen.
Bei der SPD gibt es mit dem Europaparlaments-Präsidenten Martin Schulz einen zugkräftigen Spitzenmann, er ist auch der europaweite Kandidat der Sozialdemokraten und soll EU-Kommissionspräsident werden. Rechts- wie Linkspopulisten sagt die SPD den Kampf an. Wichtige Ziele sind: strengere Haftungsregeln für Banken, Trennung von Investment- und Geschäftsbankensystem und ein „Finanz-Check“ für alle neuen Finanzprodukte; Entzug der Banklizenz bei Hilfe zum Steuerbetrug; europaweite Mindestlöhne; weniger Bürokratie, mehr Mitsprache und mehr Macht für das Europaparlament.
Die Linke spricht sich für eine grundlegende Neuausrichtung der EU aus. „Europa geht anders. Sozial, friedlich, demokratisch“, heißt ihr Programm. „Wir wollen einen Politikwechsel, damit die EU nicht vornehmlich Eliten an Reichtum und Macht ein Zuhause bietet, sondern sich solidarisch für alle entwickelt.“ Konkret fordert die Partei Mindestlöhne und -renten in der gesamten EU, eine Neuausrichtung der Währungsunion, die Vergesellschaftung privater Großbanken, ein Verbot von Rüstungsexporten sowie die Auflösung der Nato.
Die Grünen stellen den Klima- und Verbraucherschutz, mehr Datensicherheit und Bürgerrechte in den Mittelpunkt. Antieuropäischen Populismus von Rechts und Links konfrontieren sie mit dem „Ziel eines besseren Europas“. Sie wollen die EU weiterentwickeln und die Erweiterungspolitik der EU fortsetzen. Sie wollen ein Europa der erneuerbaren Energien. Der Atomausstieg soll in der gesamten EU vorangetrieben werden. Lebensmittel sollen frei von Gentechnik und Antibiotika sein. EU-weit verpflichtende Herkunftsangaben sollen dabei Transparenz schaffen.
Die FDP will nach dem bitteren Abschied aus dem Bundestag ein kleines Comeback schaffen. In den Umfragen bewegt sich bei den Liberalen aber bislang nichts. Sollte die AfD besser abschneiden, hätte Parteichef Christian Lindner ein Problem. Von einer Schicksalswahl will er aber nichts wissen. Der Hauptgegner sei Schwarz-Rot, nicht die AfD. Inhaltlich tritt die FDP für mehr Bürgerrechte ein, die Vorratsdatenspeicherung soll verhindert werden. Beim Euro soll der Rettungsschirm ESM schrittweise reduziert, zudem ein Austrittsmechanismus für Euro-Länder geschaffen werden.
Die Alternative für Deutschland setzt mit ihrem Slogan „Mut zu D EU tschland“ ein klares Zeichen. Erst geht es um Deutschland, dann um Europa. Ein Austritt aus dem Euro wird für die Krisenländer Südeuropas gefordert. Neue EU-Mitglieder soll es nicht geben, Kompetenzen sollen auf die nationale Ebene zurückverlagert werden. Neben Parteichef Bernd Lucke auf Listenplatz eins soll der frühere Industriepräsident Hans-Olaf Henkel der Partei ein Gesicht geben. Eine Zusammenarbeit mit Rechtsextremen lehnt die AfD ab.
Die Gegner berufen sich auf die klar ablehnenden Worte von Parteichef Lucke. Und alle zusammen ergötzen sie sich an den vermeintlich feindlichen Medien. So dürfte die Partei in der Lage sein, über längere Zeit auch größere inhaltliche Gräben zwischen eher nationalkonservativ gesinnten und ultraliberalen Kräften innerhalb der Partei zu überbrücken. Denn anders als die gescheiterte deutsche Piratenpartei braucht die AfD keinen gemeinsamen Gestaltungsanspruch, ihr genügt das Feindbild namens „Kartell der Altparteien“. Das wiederum ist so vage, dass es quasi unkapputbar ist.
Wer es richtig gut macht, der kann sogar dann überleben, wenn ihm das Feindbild abhanden kommt. Das zeigt die finnische Partei Perussuomalaiset (Wahre Finnen), die europäische Protestpartei, die der deutschen AfD vielleicht am ähnlichsten ist. Und locker als Vorbild dienen könnte, wie es gelingt, eine im Kern eher moderate Protestpartei im politischen Spektrum zu etablieren. So sagt Jan Sundberg, Politikwissenschaftler von der Uni Helsinki: „Die Wahren Finnen sind in ihrer Mehrzahl nicht besonders radikal und vor allem kaum im ideologischen Spektrum zu verorten.“ Wie bei der AfD findet man bei den Wahren Finnen von der klassischen konservativen Position (keine Homo-Ehe) über die Euro-Kritik (finnisches Geld für finnische Bürger) bis zu einer eher linken Wirtschaftspolitik (Kapital stärker besteuern) Vertreter von fast allen politischen Flügeln, lediglich Ultraliberale treten anders als bei der AfD kaum in Erscheinung. Auf einem Stammtisch der Wahren Finnen - die deutsche Übersetzung unter der man die Partei kennt, ist etwas ungenau beziehungsweise missverständlich; die Partei sieht sich als Sprachrohr der einfachen Finnen, daher passt der Begriff Basisfinnen besser - trifft man Menschen, die vor der Gefahr durch eine Islamisierung warnen und selbst Anhänger der Homo-Ehe sind, und andere, die das Verbot von Landminen aussetzen wollen und zugleich vor den Risiken der Atomkraft warnen. Als die Partei 2009 ins Europaparlament einzog, wollte sie aus dem Euro austreten, inzwischen will sie nur noch „Reformen“.