Ex-Bankenkommissar wird Mr. Brexit Michel Barnier wird Brüssels Brexit-Unterhändler

Der französische Ex-Bankenkommissar Michel Barnier wird Chefunterhändler der Brüsseler Behörde in den Brexit-Gesprächen mit Großbritannien.

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Er wird Mr. Brexit in der EU: Michel Barnier war als EU-Binnenmarktkommissar von 2010 bis 2014 für die Bankenregulierung zuständig. Quelle: dpa

Der ehemalige EU-Kommissar Michel Barnier soll für die Brüsseler Behörde mit der Regierung in London die Bedingungen eines Ausscheidens Großbritanniens aus der Europäischen Union aushandeln. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ernannte den Franzosen am Mittwoch zu seinem Chefunterhändler. "Ich wollte einen erfahrenen Politiker für diese schwierige Aufgabe", begründete Juncker seine Entscheidung.

Wo die großen Brexit-Baustellen sind

Der 65-Jährige soll die Arbeit am 1. Oktober aufnehmen. Barnier war als EU-Binnenmarktkommissar von 2010 bis 2014 für die Bankenregulierung zuständig. Der zu den französischen Konservativen gehörende Barnier war maßgeblich an der Regulierung der Finanzmärkte in der EU nach der Finanzkrise 2008 beteiligt. In Frankreich war er zuvor unter anderem Außen- und Agrarminister, danach Abgeordneter im Europaparlament.

Barnier erklärte auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, er fühle sich geehrt, mit der „anspruchsvollen Aufgabe“ betraut worden zu sein.

Nach Angaben der EU-Kommission soll er die Austrittsgespräche mit Großbritannien zunächst intern vorbereiten. Erst wenn die britische Regierung ihr Austrittsgesuch nach Artikel 50 der EU-Verträge übermittelt habe, werde er die Verhandlungen mit der Regierung in London aufnehmen. Die neue britische Regierung hat angekündigt, nicht vor Ende des Jahres den Antrag zu stellen. Bei den Gesprächen dürfte der Finanzplatz London und dessen Zugang zum EU-Markt eine wichtige Rolle spielen.

Welche Branchen besonders betroffen sind
AutoindustrieDie Queen fährt Land Rover – unter anderem. Autos von Bentley und Rolls-Royce stehen auch in der königlichen Garage. Die britischen Autobauer werden es künftig wohl etwas schwerer haben, ihre Autos nach Europa und den Rest der Welt zu exportieren – je nach dem, was die Verhandlungen über eine künftige Zusammenarbeit ergeben. Auch deutsche Autobauer sind betroffen: Jedes fünfte in Deutschland produzierte Auto geht nach Angaben des Branchenverbandes VDA ins Vereinigte Königreich. Autos deutscher Konzernmarken haben danach auf der Insel einen Marktanteil von gut 50 Prozent. BMW verkaufte in Großbritannien im vergangenen Jahr 236.000 Autos – das waren mehr als 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Audi waren es 9, bei Mercedes 8, beim VW-Konzern insgesamt 6 Prozent. Für Stefan Bratzel wird der Brexit merkliche negative Auswirkungen auf die Automobilindustrie haben, die im Einzelnen noch gar nicht abschließend bewertet werden können. „Der Brexit wird so insgesamt zu einem schleichenden Exit der Automobilindustrie von der Insel führen“, sagt der Auto-Professor. „Wirkliche Gewinner gibt es keine.“ Quelle: REUTERS
FinanzbrancheBanken brauchen für Dienstleistungen innerhalb der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Durch den Brexit werden Handelsbarrieren befürchtet. Quelle: REUTERS
FinTechsDie Nähe zum Finanzplatz London und die branchenfreundliche Gesetzgebung machten Großbritannien in den vergangenen Jahren zu einem bevorzugten Standort für Anbieter internetbasierender Bezahl- und Transaktionsdienste, im Branchenjargon „FinTech“ genannt. Das dürfte sich nun ändern. Der Brexit-Entscheid werde bei den rund 500 im Königreich ansässigen FinTechs „unvermeidlich“ zu einer Abwanderung von der Insel führen, erwartet Simon Black. Grund dafür sei, so der Chef des Zahlungsdienstleisters PPRO, da ihr „Status als von der EU und EWR anerkannte Finanzinstitutionen nun gefährdet ist“. Simon erwartet von sofort an eine Verlagerung des Geschäfts und die Schaffung neuer Arbeitsplätze außerhalb von Großbritannien. „FinTech-Gewinner des Brexits werden meines Erachtens Amsterdam, Dublin und Luxemburg sein.“ Als Folge entgingen Großbritannien, kalkuliert Black, „in den nächsten zehn Jahren rund 5 Milliarden Britische Pfund an Steuereinnahmen verloren“. Quelle: Reuters
WissenschaftAuch in der Forschungswelt herrscht beidseits des Kanals große Sorge über die Möglichkeiten zukünftiger Zusammenarbeit. Die EU verliere mit Großbritannien einen wertvollen Partner, ausgerechnet in einer Zeit, in der grenzüberschreitende wissenschaftliche Zusammenarbeit mehr denn je gebraucht werde, beklagt etwa Rolf Heuer, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. „Wissenschaft muss helfen, Grenzen zu überwinden.“ Venki Ramakrishnan, der Präsident der Royal Society, fordert, den freien Austausch von Ideen und Menschen auch nach einem Austritt unbedingt weiter zu ermöglichen. Andernfalls drohe der Wissenschaftswelt „ernsthafter Schaden“. Wie das aussehen kann, zeigt der Blick in die Schweiz, die zuletzt, nach einer Volksentscheidung zur drastischen Begrenzung von Zuwanderung, den Zugang zu den wichtigsten EU-Forschungsförderprogramme verloren hat. Quelle: dpa
DigitalwirtschaftDie Abkehr der Briten von der EU dürfte auch die Chancen der europäischen Internetunternehmen im weltweiten Wettbewerb verschlechtern. „Durch das Ausscheiden des wichtigen Mitgliedslands Großbritannien aus der EU werde der Versuch der EU-Kommission deutlich erschwert, einen großen einheitlichen digitalen Binnenmarkt zu schaffen, um den Unternehmen einen Wettbewerb auf Augenhöhe mit Ländern wie den USA oder China zu ermöglichen“, kommentiert Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer beim IT-Verband Bitkom, den Volksentscheid. Daneben werde auch der Handel zwischen den einzelnen Ländern direkt betroffen: 2015 exportierte Deutschland ITK-Geräte und Unterhaltungselektronik im Wert von 2,9 Milliarden Euro nach Großbritannien geliefert; acht Prozent der gesamten ITK-Ausfuhren aus Deutschland. „Damit ist das Land knapp hinter Frankreich das zweitwichtigste Ausfuhrland für die deutschen Unternehmen.“ Quelle: REUTERS
ChemieindustrieDie Unternehmen befürchten einen Rückgang grenzüberschreitender Investitionen und weniger Handel. Im vergangenen Jahr exportierte die Branche nach Angaben ihres Verbandes VCI Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro nach Großbritannien, vor allem Spezialchemikalien und Pharmazeutika. Das entspricht 7,3 Prozent ihrer Exporte. Von der Insel bezogen die deutschen Firmen Waren für 5,6 Milliarden Euro, vor allem pharmazeutische Vorprodukte und Petrochemikalien. Quelle: REUTERS
ElektroindustrieNach einer Umfrage des Ifo-Instituts sehen sich besonders viele Firmen betroffen (52 Prozent). Das Vereinigte Königreich ist der viertwichtigste Abnehmer für Elektroprodukte „Made in Germany“ weltweit und der drittgrößte Investitionsstandort für die Unternehmen im Ausland. Dem Branchenverband ZVEI zufolge lieferten deutsche Hersteller im vergangenen Jahr Elektroprodukte im Wert von 9,9 Milliarden Euro nach Großbritannien. Dies entspreche einem Anteil von 5,7 Prozent an den deutschen Elektroausfuhren. Quelle: dpa

Beim Referendum am 23. Juni stimmte die Mehrheit der britischen Wähler für den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union. Formelle Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien über den Austritt und die künftigen Beziehungen laufen aber noch nicht.

Die EU wartet darauf, dass die britische Regierung ihren Austrittswunsch im Einklang mit Artikel 50 des EU-Vertrags offiziell anmeldet. Nach Vorstellung von Premierministerin Theresa May wird das nicht vor Jahresende geschehen. Der Zeitraum für Verhandlungen ist danach auf zwei Jahre befristet. Bis dies geschieht soll Barnier laut EU-Kommission „den Boden intern für die künftige Arbeit bereiten“.

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