Ex-Bundespräsident Horst Köhler liest Europa die Leviten

Ex-Bundespräsident Horst Köhler macht sich Sorgen um den Zustand Europas. Geschwächt durch die Schuldenkrise sei der Ruf lädiert. Der Westen müsse handeln – und etwa das Verhältnis zu den USA neu definieren.

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Horst Köhler geht mit Europa ins Gericht Quelle: Sabine Widmaier/KAS-ACDP

Es ist keine Kunst, dieser Tage über den Zustand Europas zu klagen. Prasserei und Verantwortungslosigkeit haben erst zur Schuldenkrise und anschließend zu einer politischen Krise geführt. Die Europäische Union hat sich – so nachvollziehbar der Schritt ist – derart schnell und weit ausgebreitet, dass sich Millionen Bürger fragen, welche Identität dieses neue Europa hat.

Hinzu kommt: Außenpolitisch agiert das Staatenbündnis langsam, oft unkoordiniert – und nie einheitlich. Was gedenkt Europa gegen die Flüchtlingsströme aus Afrika zu tun? Wie will Europa die Terrororganisation IS stoppen? Wie soll mit der Türkei umgegangen werden, die sich zuletzt eher von Europa entfernt, denn angenähert hat? Diese Fragen können selbst die nationalen Außenminister (oft) nicht beantworten.

So muss man Horst Köhler für die Ausrichtung seiner Rede, die er am Mittwoch nachmittag bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung auf dem Petersberg in Bonn hielt, eine Kritik an Europa und dem Westen insgesamt, nicht über den grünen Klee loben. Für die Details und Zwischentöne seiner Rede gilt aber das Prädikat: höchst bemerkenswert.

Mit Europa steht es nicht zum Besten

Der 71-Jährige, von 2004 bis 2010 Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, zeigte deutlich auf, wieso der Westen derzeit nur bedingt handlungsfähig und längst kein Aushängeschild in der Welt mehr ist. Er kritisierte die Bundesregierung, die Euro-Schuldenstaaten, vor allem: all jene, die an dem Bündnis mit den USA zweifeln.

Die deutschen Bundespräsidenten
Joachim Gauck (seit 2012)Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck wurde am 18. März 2012 mit einer überwältigenden Mehrheit von 80 Prozent zum Bundespräsidenten gewählt. Er übernahm das Amt von seinem Vorgänger Christian Wulff, der nach nur 20 Monaten im Amt zurücktrat. Gauck, Jahrgang 1940, gehört keiner Partei an. Der Theologe und frühere Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde gilt als integer und redlich. Er ist der erste Ostdeutsche, der das höchste Staatsamt der Bundesrepublik bekleidet. Als wichtigste Aufgabe seiner Amtszeit verkündete Gauck in seiner Rede nach der Wahl, Regierung und Bevölkerung wieder näher zueinander bringen zu wollen. Im Februar 2017 wird er im Amt abgelöst. Quelle: dpa
Christian Wulff Quelle: dapd
Host Köhler Quelle: dpa
Johannes Rau Quelle: AP
Roman Herzog Quelle: AP
Richard von Weizsäcker Quelle: BPA
Karls Carstens Quelle: BPA

Der Reihe nach: Köhler stellte Europa ein durchwachsenes Zeugnis aus – für den Status quo wie auch für die vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Europas „historische Leistungsbilanz ist durchwachsen“, machte Köhler deutlich. „Seine Glaubwürdigkeit erschüttert, und selbst um seine materielle Stärke steht es derzeit nicht zum Besten – die Europäische Union steckt seit Jahren in einer Schulden- und Wachstumskrise (...).“ Köhler betont, er sei überrascht, wie blind die Staats- und Regierungschefs, aber auch die Bevölkerung, dafür geworden seien, wie das Bild der Anderen von uns ist. So lange in Europa Zwist, Armut und Massenarbeitslosigkeit herrschten, könne kein starkes Zeichen von der alten Welt ausgehen.

Apropos Außendarstellung: Köhler kritisiert, dass von einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik „bisher leider wenig zu sehen gewesen ist“. Dass Europa weiterhin nicht mit einer Stimme spreche, habe auch zu einer Schwächung des transatlantischen Bündnisses geführt – und zu Ungeduld und Erbitterung bei den „amerikanischen Freunden“.

Die wichtigsten Sätze der Köhler-Rede

Europäer wollen den USA nicht helfen

Der ehemalige Bundespräsident, der nach der Jahrtausendwende fünf Jahre als geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington arbeitete, tritt bei der Rede in Bonn auch als Anwalt der Vereinigten Staaten von Amerika auf. Oft würden die USA in Deutschland zu Unrecht kritisiert; die US-Amerikaner stünden entgegen der Vorurteile nicht für Alleingänge. Im Gegenteil. Seit einer Rede von Ex-Präsident John F. Kennedy 1962 hätten die USA Unterstützung gesucht, um „weltweit den Kräften der Zerstörung Paroli zu bieten“. Einzig: Die Europäer wollten nicht helfen, so Köhler.

Er plädiert dafür, den USA auf Augenhöhe zu begegnen. Nie von oben herab, aber durchaus kritisch. Längst sei nicht alles richtig, was die US-Amerikaner machen; Köhler nannte als Stichworte die NSA-Affäre, den Folterskandal von Abu Ghraib und den Irak-Krieg von 2003. Dies aber wüssten die Freunde jenseits des Atlantiks auch selbst. Viele seien gegen die Todesstrafe und den privaten Waffenbesitz. Und auch der außenpolitische Kurs sei nicht unumstritten. „Auch in den USA gibt es Falken und Tauben.“

Gleichzeitig erinnerte Köhler daran, dass etwa auch Teile der CDU/CSU für den umstrittenen Irak-Krieg waren; Grund zum Triumphalismus vonseiten Europas sei falsch. Köhler war in seinem Element, der Transatlantiker versuchte Brücken zu bauen und rief in den komplett gefüllten Veranstaltungssaal auf dem Petersberg: „Halten wir uns nicht damit auf, was angeblich ganz Europa von den gesamten USA unterscheidet oder gar trennt. Sprechen wir lieber über all das, was uns unbestreitbar miteinander verbindet. Wir gehören zur selben Familie von Völkern mit gemeinsamen geschichtlichen Wurzeln und ähnlichen (...) Wertvorstellungen.“

"Polens Beitritt zum Westen war nicht gegen Russland gerichtet"

Unterstützung erhielt Köhler durch den ehemaligen polnischen Botschafter in Deutschland, Janusz Reiter. Er machte klar: „Polen gehört zum Westen. Und die Vereinigten Staaten gehören dazu.“ Ein gutes Verhältnis zu den USA sei Grundvoraussetzung, um den Wohlstand und die Sicherheit in Europa zu gewährleisten. Reiter habe immer gute Erfahrungen mit den US-Amerikanern gemacht. „Sie sind nicht erhaben gegenüber Kritik."

Anschließend machte Reiter deutlich, dass die EU-Osterweiterung vor elf Jahren sowie die Nato-Osterweiterung vor 16 Jahren eine Erfolgsgeschichte sei. „Während woanders Misstrauen steigt, wächst das Vertrauen zwischen Deutschland und Polen.“ Das Bekenntnis der Polen zum Westen sei niemals Ausdruck gewesen, dass das Land sich gegen Russland abschotten wolle. „Der Beitritt zum Westen war nicht gegen Russland gerichtet“, machte Reiter klar. „Wir haben gehofft, dass sich diese Erkenntnis auch in Moskau durchsetzt. Das ist leider nicht geschehen.“

Wie also umgehen mit dem Rivalen im Osten? Ex-Bundespräsident Horst Köhler fordert Europa und die USA auf, die Führung zu übernehmen und an einer internationalen Ordnung zu bauen, die Frieden und Wohlstand auf der Welt fördert. Europa müsse als „soft power“ die Welt zu ändern versuchen. Voraussetzung dafür sei, dass der Kontinent eine echte politische Union werde, „die Europa eigene Identität und Handlungsfähigkeit gibt“. Deutschland, konkret: die Bundesregierung, hätten hier bislang zu wenig getan. Die Frage „Wohin mit Europa?“ hätten Kanzlerin Merkel & Co. bisher nicht beantwortet.

Europa kann sich nicht aus allem heraushalten

Doch will Europa überhaupt mehr Verantwortung übernehmen? Erinnert sei an den Aufschrei, der durchs Land ging (und der dem Bundespräsidenten schließlich sein Amt kostete), als Köhler 2010 erklärte, dass Deutschland, „ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege zu erhalten, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern“.

Damals ein Tabubruch. Und heute? Ob es inzwischen einen Gesinnungswandel in Deutschland gegeben hat – auch Verteidungsministerin Ursula von der Leyen und der aktuelle Bundespräsident Joachim Gauck fordern nun eine aktivere Rolle Deutschlands in der Welt -, darüber streiten die Gelehrten. Janusz Reiter unterstreicht, dass sich Europa nicht aus allem heraushalten könne. „In Europa grassiert die Angst, von dem Unheil auf der Welt angesteckt zu werden und seine Unschuld zu verlieren. Aber: Auch Nichtstun kann zum Verlust der Unschuld führen.“

Und so erntet an diesem Nachmittag auf dem Petersberg Horst Köhler für seine Rede lautstarken Applaus – obwohl (oder weil?) er schlussfolgert: „Die europäischen Nato-Mitglieder, auch Deutschland, haben nun gelobt, einen höheren Anteil ihres Sozialprodukts für Verteidungsaufgaben zu verwenden. Diese Verpflichtung muss eingehalten werden, (...) weil die Substanz einer Partnerschaft sich nicht zuletzt in der Fähigkeit ausdrückt, Verantwortung zu übernehmen – nicht nur, aber eben auch militärisch.“

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