Beinahe hätte Sini Marttinen den Brief, der ihr Leben verändern sollte, weggeworfen. Hinter der jungen Frau lagen einige höchst erfolgreiche Jahre in Edinburgh, Kopenhagen und Brüssel, wo sie für eine finnische IT-Firma Schulungen gegeben hatte. Bis ihr Vater an Alzheimer erkrankte und sie beschloss, nach Finnland zurückzukehren. Da drehte sich ihr Glück: Binnen eines Jahres verlor sie ihren Job, weil sie nicht bereit war, erneut umzuziehen.
Die Jetsetterin stand vor dem Nichts, ohne Job, ohne eigene Wohnung, mit krankem Vater. Das war 2016. Finnland kämpfte mit den Spätfolgen der Finanzkrise, mit Rekordarbeitslosigkeit und Rezession. Marttinens Chancen auf einen Neubeginn standen denkbar schlecht. Da kam der Brief. Er sah bürokratisch aus, erzählt Marttinen, deshalb ließ sie ihn zunächst einmal liegen.
Zu ihrem Glück entschied sie sich schließlich doch anders – und las, dass sich ihr Leben von nun an ändern würde: Marttinen war in der Lotterie gezogen worden, als eine von 2000 zufällig ausgewählten Teilnehmern eines Jahrhundertexperiments zum bedingungslosen Grundeinkommen.
Es soll helfen, die ganz großen Fragen zu beantworten. Nicht erst seit die neueste Debatte rund um Hartz IV entbrannt ist, hat die Idee eines Grundeinkommens auch in Deutschland Konjunktur. Linke wollen mit ihm Armut bekämpfen, Liberale Arbeitslosen zu Jobs verhelfen. Doch ob diese Ideen der Realität standhalten, war noch nie überprüft worden – bis das finnische Experiment kam.
Jetzt läuft es nach zwei Jahren aus: Am 4. Dezember sind zum letzten Mal bedingungslos 560 Euro auf Marttinens Konto eingegangen. Ab Januar muss sie wieder beim Arbeitsamt vorstellig werden, um Unterstützung zu bekommen – oder besser gesagt: Sie müsste es. Denn Marttinen ist nicht mehr auf Hilfe vom Staat angewiesen. Mithilfe des Grundeinkommens hat sie inzwischen einen Job gefunden.
Der Brief sei für sie eine Art Weckruf gewesen, erzählt die heute 35-Jährige. „Ich war schon immer ein unternehmerischer Typ, die Sicherheit des Grundeinkommens hat mir geholfen, mich selbstständig zu machen.“ Schon im April 2017, vier Monate nach Beginn des Experiments, arbeitete Marttinen wieder, als freie Beraterin für eine Stiftung. Heute verdient sie so etwa 3000 Euro im Monat.
Marttinen steht mit ihrer Erfolgsgeschichte nicht alleine da. Bislang sind etwa 20 der 2000 Experiments-Teilnehmer mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit getreten und fast alle sind positiv. So auch die von Juha Järvinen, der mit seinem prägnanten Zylinder so etwas wie der Posterboy des Grundeinkommens-Experiments geworden ist. Mit hunderten Journalisten aus aller Welt hat er bereits gesprochen, einige hat er auch durch sein verwunschen wirkendes altes Schulhaus mitten in den finnischen Wäldern geführt.
Stets erzählt er Variationen derselben Geschichte, auch der WirtschaftsWoche. Der Tenor: Er sei unfrei gewesen, als er noch Arbeitslosengeld bekam, weil er immer zum Amt musste und weil beim geringsten Zuverdienst Sozialleistungen gestrichen worden seien. Den Brief, der ihn zum Teilnehmer des Experiments machte, bezeichnet er deshalb als „Brief ins Gefängnis in dem es heißt: Sie sind frei!“
Järvinen hat schon viele Jobs versucht in seinem Leben, meist künstlerischer Natur, nicht immer erfolgreich. Nach einer Privatinsolvenz war er sechs Jahre lang arbeitslos, bevor er für das Experiment ausgewählt wurde. Heute schnitzt er Schamanentrommeln, die er über das Internet in die ganze Welt verkauft. Zudem lädt er in sein Schulhaus ein, zu Übernachtungen und Trommelbauworkshops. Damit sei er so erfolgreich, dass auch er ab Januar keine staatliche Hilfe mehr brauchen wird, sagt Järvinen: „Ich habe mehr Arbeit, als ich bewältigen kann.“
Dabei bekommen Marttinen und Järvinen mit dem Grundeinkommen exakt so viel Geld wie zuvor mit der Arbeitslosenhilfe. Der Unterschied ist, dass sie für die 560 Euro nichts mehr tun müssen, keine Formulare ausfüllen, keine Fortbildungen besuchen. „Die Leute verstehen nie, dass das ein Problem ist“, sagt Marttinen. „Aber wenn man plötzlich alles verliert, versteht man nichts mehr, alles wird zur Herausforderung.“
Die 35-Jährige weiß, wovon sie spricht, und das nicht nur aus eigener Erfahrung. In ihrer Freizeit engagiert sie sich beim Roten Kreuz, betreut Gefängnisinsassen, Schulkinder, Arbeitslose. Viele ihrer Sorgenkinder sind von der Bürokratie heillos überfordert, von den Anforderungen auf einem sich stetig wandelnden Arbeitsmarkt ganz zu schweigen.
Robotisierung und Künstliche Intelligenz bringen Politiker, Firmenlenker und Angestellte gleichermaßen dazu, über die Arbeitswelt von morgen nachzudenken. Wenn vielleicht nicht mehr genug Arbeit für alle da ist, aber trotzdem alle genug Geld zum Leben haben sollen. Selbst Multimilliardäre wie Elon Musk und Mark Zuckerberg liebäugeln plötzlich mit der Idee eines Grundeinkommens.
Da immer weniger menschliche Arbeitskraft gebraucht würde, so das Kalkül der Grundeinkommen-Fans, könnten sich die Menschen dank finanzieller Sicherheit in Ruhe neue Nischen suchen. So soll ein bislang ungeahntes Potential an Kreativität freigesetzt werden.
Für hochqualifizierte Arbeitslose wie Marttinen mag das funktionieren. Doch was ist mit denen, die schon ohne immer neue technische und soziale Ansprüche vom Arbeitsmarkt überfordert sind? Menschen wie Marttinens Sorgenkindern?
So positiv die 35-Jährige in ihrer persönlichen Bilanz des Experiments ist, so harsch beurteilt sie die generellen Auswirkungen eines Grundeinkommens. Viele Arbeitslose seien derart abgehängt, dass sie sich nicht in den Arbeitsmarkt integrieren ließen, 560 Euro hin oder her, sagt Marttinen. „Wer heute keinen fehlerfreien Lebenslauf schreiben kann, der lernt das nicht plötzlich, nur weil er ein bedingungsloses Grundeinkommen erhält.“