Experiment zum Grundeinkommen Sozial radikal – Finnlands 800-Euro-Lotterie

800 Euro Grundeinkommen für jeden? Diese Idee wollen finnische Wissenschaftler ab 2017 testen. Wie das große sozialpolitische Experiment funktionieren soll und woran das bedingungslose Grundeinkommen scheitern könnte.

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Finnland plant bedingungsloses Grundeinkommen. Quelle: imago, Montage

In Finnland hat eines der größten sozialpolitischen Experimente der europäischen Nachkriegszeit begonnen. Die Mitte-Rechts-Regierung von Ministerpräsident Juha Sipilä, die seit Mai dieses Jahres im Amt ist, hat eine Testphase für ein bedingungsloses Grundeinkommen gestartet. „Für mich bedeutet ein Grundeinkommen eine Vereinfachung des sozialen Sicherungssystems“, erklärte Sipilä zuletzt.

Im Frühjahr 2016 soll eine finnische Expertenkommission ein Gutachten vorlegen, wie und unter welchen Bedingungen ein Grundeinkommen gezahlt werden kann. Olli Kangas von der finnischen Sozialversicherungsbehörde KELA ist für die Studie verantwortlich. Vor einigen Wochen sagte er, dass er einen Betrag von 800 Euro pro Person für denkbar hält.

In gut einem Jahr will die finnische Regierung dann entscheiden, ob und wann es das Experiment startet. Nach dem Willen der Wissenschaftler sollen daran zunächst einige tausend Menschen teilnehmen, die per Lotterieverfahren ermittelt werden.

Wissenswertes über Finnland

Für Wissenschaftlerin Kati Kuitto von der Denkfabrik „Finnish Center for Pensions“ gibt es zwei wesentliche Gründe für das Grundeinkommen. „Zum einen werden auch geringfügige Beschäftigungen attraktiv, weil die Grundversorgung sichergestellt ist. Zum anderen fallen die meisten anderen Sozialleistungen weg und das System wird massiv vereinfacht und effizienter“, sagt Kuitto.

Derzeit leidet Finnland unter einer hohen Arbeitslosigkeit von knapp zehn Prozent. Manche Befürworter des Grundeinkommens bringen das immer wieder als Argument: Zahlt der Staat eine solche Grundsicherung, halten sich die negativen Auswirkungen der schwachen Beschäftigungsquote in Grenzen.

Alexander Spermann vom Institut der Zukunft für Arbeit (IZA) in Bonn hält wenig von diesem Argument. „Ein Grundeinkommen eignet sich nicht, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Eine solche sozialpolitische Leistung gibt möglicherweise einen Anreiz, bislang wenig attraktive Jobs anzunehmen. Neue Jobs entstehen so aber nicht“, sagt der Wissenschaftler.

Dennoch hält Spermann es für sinnvoll, dass Finnland das Experiment startet. „Wir wissen viel zu wenig darüber, wie sich Menschen verhalten, wenn sie ein Grundeinkommen bekommen. Stellen Sie die Arbeit ein oder bekommen sie einen zusätzlichen Arbeitsanreiz? Über diese Fragen wird hitzig debattiert, aber uns fehlen empirische Erkenntnisse.“

In wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Studien gilt vor allem die Höhe des Grundeinkommens für entscheidend. Würde sich Finnland tatsächlich für 800 Euro pro Monat entscheiden, entspräche das in etwa der derzeitigen Arbeitslosenhilfe plus Kindergeld. Die Finnen würden sich also an bestehenden Sozialleistungen orientieren und diese umbauen. Je höher das Grundeinkommen, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass Menschen sich noch einen Job suchen. Diese These dominiert derzeit die wissenschaftliche Debatte.

Breite Unterstützung in der finnischen Bevölkerung

Im finnischen Experiment soll es letztlich eine Reihe von Versuchsgruppen geben. Eine Gruppe könnte etwa 800 Euro pro Monat erhalten, eine weitere Gruppe einen deutlichen höheren Betrag. Eine dritte wiederum würde wohl das Modell der negativen Einkommenssteuer testen, wonach das Grundeinkommen abnimmt, sobald ein Bürger einen Job hat, mit dem es verrechnet werden kann. Eine vierte Kohorte müsste als Kontrollgruppe dienen, um die Ergebnisse vergleichen zu können.

Expertin Kati Kuitto sieht noch Schwierigkeiten in der Umsetzung. Unter anderem müsse geklärt werden, ob und wie jemand Rentenansprüche erwirbt, wenn er das Grundeinkommen erhält. „Wer heutzutage Arbeitslosenhilfe oder Elterngeld bekommt, sammelt weiterhin Rentenansprüche. Das müsste beim Grundeinkommen ebenfalls sichergestellt werden“, sagt Kuitto.

Und: „Es darf niemand, der an dem Experiment teilnimmt, schlechter gestellt werden als zuvor.“ Kurzum: Wenn jemand sehr viele Sozialleistungen erhält, müssen diese auch künftig über das Grundeinkommen abgedeckt werden. Gegner des Konzepts bringen das immer wieder als Argument an. Staatliche Transferleistungen sollten immer an das Individuum angepasst werden, das Hilfe braucht. Eine Gleichbehandlung von allen sei nicht zielführend. Viel zu aufwendig und bürokratisch, hält die andere Seite dann für gewöhnlich entgegen.

Sollte das Experiment gelingen, kann das Grundeinkommen frühestens 2020 eingeführt werden. Innerhalb der finnischen Bevölkerung gibt parteiübergreifend viel Unterstützung für die Idee. Die Sozialversicherungsbehörde KELA hatte im September eine repräsentative Umfrage durchgeführt, wonach 69 Prozent aller Befragten das Grundeinkommen befürworten.

Am größten ist die Unterstützung bei den Anhängern des finnischen Linksbündnisses (86 Prozent). Bei den Grünen finden drei Viertel die Idee gut und selbst bei Konservativen (54 Prozent) und Christdemokraten (56 Prozent), die dem Vorschlag in der Vergangenheit eher skeptisch gegenüberstanden, findet die Idee Anklang.

Wie genau das Grundeinkommen letztlich konstruiert wird, ist auch eine Frage der Finanzierbarkeit. Der Finanzdienst Bloomberg rechnet in einer Überschlags-Kalkulation vor, dass jedes Jahr rund 47 Milliarden Euro benötigt würden, wenn jedem der knapp fünf Millionen erwachsenen Finnen im Monat 800 Euro gezahlt würden. Zum Vergleich: Für das Jahr 2016 kalkuliert Finnland mit einem Gesamtbudget der Zentralregierung von 54 Milliarden Euro, davon fünf Milliarden Euro Schulden.

Arbeitsmarktexperte Spermann rät in der Finanzierungsfrage zur Gelassenheit, schließlich sei es immer das „das Killerargument“ in der Debatte. Viel entscheidender für ihn: „Wenn man ein Modell finden würde, was finanzierbar ist und Arbeitsanreize schafft, müsste man es langsam implementieren – egal ob in Finnland oder einem anderen Land. Die Sozialsysteme müssten Stück für Stück umgestellt werden, auch um die Bürger an das neue Modell zu gewöhnen.“ In einigen Monaten wird Finnland entscheiden, ob es das Experiment wagt.

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