
Bevor diese Geschichte eines Landes beginnt, das sich selbst auf Entschleunigungskur gesetzt hat, sollten wir realistisch betrachten, was da in den nächsten 193 Zeilen auf uns zukommt: ein bewusst optimistischer Blick auf ein Land, dem wir Deutschen seine Eigenarten von jeher seltsam verklärt durchgehen lassen.
Ein Gastgeberland am Vorabend einer Weltausstellung Expo, das wir rosiger sehen, als es wirklich ist – was in den nun noch folgenden 186 Zeilen noch verstärkt werden soll. Nicht, um einen weiteren Seufz-, Schmacht- und Säuseltext über uns ergehen zu lassen, sondern, um im Jahre sechs der Euro-Krise der Beschreibung des Südens unseres Währungsraums die Fallbeilschärfe zu nehmen.

Deswegen beginnt diese Geschichte mit Brunello Cucinelli. Der erscheint an einem der ersten Frühsommertage des Jahres auf weißen Sporttretern, über die sich eine weiße Stoffhose zieht, in der wiederum ein weißes Poloshirt steckt. Er, der mit der nach ihm benannten Marke einen großen Teil der besser verdienenden globalisierten Industriegesellschaft einkleidet, strahlt Unschuld aus. Was für ein Symbol.
Denn diese Unschuld versteckt sich hier im umbrischen Dörfchen Solomeo in vielen Winkeln: in dem Dorfkern aus dem 13. Jahrhundert, den der Modeunternehmer so glatt und harmonisch wieder aufgebaut hat, wie er wohl im Original nie war. In den Produktionsverfahren, mit denen Schneider und Weber so aufwendig arbeiten, wie es selbst in der vorindustriellen Landgesellschaft selten der Fall war. In den Sälen der Handwerksakademie, in denen mit Schneider, Schreiner oder Landwirt Berufe gelernt werden, die der Norden des Kontinents eher für das Problem denn für die Lösung darbender Volkswirtschaften hält.
Tops und Flops der Expo 2015
Die italienische Regierung erwartet sich einen Besucheransturm und wirtschaftlichen Aufschwung von der Expo. Viele Mailänder sind dagegen genervt von der Weltausstellung, die vom 1. Mai bis Ende Oktober läuft. Bis zu 20 Millionen Besucher sollen kommen.
Das Thema „Den Planeten ernähren, Energie fürs Leben“ trifft den Nerv der Zeit und passt gut zu Italien. Es geht einerseits darum, Lösungen zu finden, wie alle Menschen der Welt in Zukunft ernährt werden können. Andererseits werden Themen wie Übergewicht oder Magersucht diskutiert. Aber jeder Pavillon will auch sein Land kulinarisch anpreisen. Das heißt: Es gibt viel zu Essen - darunter auch exotisches wie Insekten.
Der österreichische Pavillon ist schlicht, ruhig und einfach. Wer von der Reizüberflutung der Expo genug hat, der kann sich dort in einen Wald zur Ruhe setzen und über österreichische Berg- und Waldluft sinnieren.
Viele Bewohner der Stadt schimpfen über die Expo und die vielen Bauarbeiten. Andere wollen sich nicht von dem Frust anstecken lassen. So können sich Mailänder über die Webseite „Piacere Milano“ mit Touristen vernetzen und sie zum Essen zu sich nach Hause einladen.
Am Rande der Expo läuft ein großes Kulturprogramm. Highlights sind eine Leonardo da Vinci-Ausstellung, die 200 Werke aus den wichtigsten Museen der Welt zusammengetragen hat, und das Programm der Mailänder Scala.
Bis zuletzt bestimmten Verzögerungen bei den Bauarbeiten die Schlagzeilen. Letztes Jahr überschattete zudem ein Korruptionsskandal die Ausstellung, bei dem mehrere Expo-Manager festgenommen wurden.
Ausgerechnet Unternehmen wie McDonald's und Coca Cola gehören zu den Sponsoren der Expo. Viele Kritiker sehen darin einen Widerspruch zum Thema gute Ernährung.
Etwas platt ist die Darstellung der Bundesländer im deutschen Pavillon. Dass es in Bayern Weißwürste und Bier und in Frankfurt Grüne Soße gibt, bebildert mit etwas kindlichen Zeichnungen: Ein bisschen weniger Klischees hätten sicher nicht geschadet.
Was mit dem riesigen Gelände am Stadtrand nach der Ausstellung passiert, ist bisher niemanden so richtig klar. Die meisten Pavillons, die für Millionen erbaut wurden, werden abgebaut. Nur vereinzelt gibt es kreativere Ideen: Die zentralen Türme des Schweizer Pavillons sollen später Gewächshäuser in der Schweiz werden. Und einige Schuhe der Mitarbeiter im deutschen Pavillon sind kompostierbar und können als Blumentopf umfunktioniert werden.
Cucinelli zieht einen Zettel hervor, zeichnet einen Kreis und sagt: „Das hier unten“, der Kreis bekommt einen Strich, der das untere Viertel abtrennt, „ist der Teil der Bevölkerung, dem wir derzeit keine Arbeit mehr geben können.“ Cucinelli malt einen zweiten Kreis. Dieser bekommt einen Strich, der die oberen zehn Prozent abtrennt. „Das ist der Teil der Weltbevölkerung, der über ein überdurchschnittliches Einkommen verfügt und alles attraktiv findet, was in europäischer Tradition handwerklich hergestellt wurde.“ Für Cucinelli gehören beide Kreise zusammen: „Wenn wir es schaffen, die unteren 25 Prozent unserer Bevölkerung so auszubilden, dass sie den Bedarf der oberen zehn Prozent der Welt befriedigen können, haben wir unsere sozialen Probleme gelöst.“
Vorstellung einer idealen Welt
Cucinelli, 61, schaut auf, als ob die Euro-Krise damit beendet wäre. Er ist kein Träumer. Sein Vermögen wird auf einen neunstelligen Betrag geschätzt. Das Dörfchen Solomeo hat er so aufbauen lassen wie seine Vorstellung einer idealen Welt: Alle der 800 Arbeitsplätze im 500-Einwohner-Dorf beschäftigen sich mit Handwerk, die Arbeitstage dauern von 8 bis 17 Uhr, mittags kommen alle für eineinhalb Stunden Mittagspause an langen Tafeln zusammen – und alle verdienen so viel, dass sie sich das schöne Leben leisten können. Es ist im Kleinen, was 465 Kilometer nordwestlich in Mailand, in Pavillons gegliedert, in vielen Aspekten beleuchtet wird.





Eine Version des Wohlfühl-Kapitalismus, die in Italien Kreise zieht. Das Motto der Expo lautet: „Den Planeten ernähren“. Damit beschäftigt sich eine Weltausstellung erstmals nicht mit industriellem oder technologischem Fortschritt, sondern mit der Verbindung von Humanismus und Ökonomie. Wenn die Tore der Weltausstellung öffnen, zeigt die drittgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone ihre Vision: ein Land im Retrorausch, befreit vom Immer-schneller der Leistungsökonomie, die in Italien seit 13 Quartalen schrumpft. Zuletzt wanderte selbst Fiat nach London, und Pirelli wurde von Chinesen gekauft.
Nun also: Mode schneidern, Möbel schreinern, Lebensmittel veredeln. Das gute Leben.