
Börsianer sind zuweilen wie kleine Kinder. Voller Erwartungen hatten sie am Mittwoch, einen Tag vor dem Nikolaustag, ihre Stiefel vor die Türen der Handelssäle gestellt – in der Hoffnung, Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), werde sie ihnen mit vielen Bündeln frischen Geldes ordentlich füllen. Doch Draghi verspürte wenig Lust, den Nikolaus für die Händler zu spielen. Statt wie von diesen erhofft, die Zinsen weiter zu senken oder die Notenpresse schneller rattern zu lassen, tat er (vorerst) nichts. Damit sorgte er bei vielen Finanzmarktakteuren für lange Gesichter. Die Aktienkurse rutschten in den Keller.
Dabei wäre die Enttäuschung der Händler wohl geringer ausgefallen, hätten sie genauer hingehört, was Draghi in der anschließenden Pressekonferenz gesagt hat. Zwar ließ der EZB-Chef die Leitzinsen nach der überraschenden Senkung Anfang November diesmal unverändert. Der Satz für die Hauptgeldleihe bleibt bei 0,25 Prozent, der Satz für kurzfristige Einlagen der Banken bei der EZB verharrt bei 0,0 Prozent und der Satz für Notkredite bleibt konstant bei 0,75 Prozent. Doch Draghi deutete an, dass es dabei nicht bleiben wird. Der EZB-Rat sei „bereit und fähig“ zum Handeln, erklärte er.
Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Eurohüter bald erneut aufs geldpolitische Gaspedal drücken. Die Begründung dafür haben sie am Mittwoch schon geliefert. In ihren neuen Wachstums- und Inflationsprojektionen prognostizieren sie für das nächste und das übernächste Jahr Inflationsraten von 1,1 und 1,3 Prozent - Raten, die deutlich unter dem Inflationsziel der EZB von „knapp unter 2,0 Prozent“ liegen. Die Eurohüter könnten also unter Verweis auf ihre eigenen Prognosen die Geldpolitik weiter lockern, um ihr Inflationsziel zu erreichen.
Dafür stehen ihnen mehrere Instrumente zur Verfügung, über die die EZB-Rat diskutiert hat. Neben einer neuerlichen Leitzinssenkung könnten die Währungshüter ein neues langfristiges Geldleihgeschäft für die Banken auflegen. Außerdem könnten sie den Einlagenzins unter die Marke von 0,0 Prozent drücken, die Mindestreservepflicht der Banken abschaffen oder die Sterilisierungstender aufheben, mit denen sie bisher das durch den Ankauf von Staatsanleihen geschaffene Zentralbankgeld stillgelegt haben.
Von diesen Instrumenten haben langfristige Leihgeschäfte wohl die größte Realisierungswahrscheinlichkeit. Bereits am Jahresende 2011 und Anfang 2012 hatte die EZB die Geschäftsbanken mit zwei Leihgeschäften - von Draghi damals als Dicke Bertha bezeichnet - großzügig mit Geld versorgt, um ein Austrocknen des Interbankenmarktes zu verhindern. Damals liehen sich die Banken für 3 Jahre insgesamt rund eine Billion Euro von der EZB. Mit dem Geld kauften sie – auch auf Druck ihrer Regierungen – in großem Stil Staatsanleihen. Auf diese Weise floss das frisch gedruckte Geld über die Banken in die Staatshaushalte der Krisenländer. Die EZB finanzierte die Regierungen des Südens mit der Notenpresse - und degenerierte zum Finanz-Lakai chronischer Haushaltssünder.
Nun könnte es zum nächsten ordnungspolitischen Sündenfall kommen. Auf der Pressekonferenz am Mittwoch wies Draghi darauf hin, dass die Gelder aus einem möglichen neuen Leihgeschäft für die Banken diesmal nicht in den Kassen der Finanzminister, sondern bei den Unternehmen in der Realwirtschaft landen sollen. Experten rechnen daher damit, dass die EZB die Dicke Bertha 2.0 nur denjenigen Banken gewährt, die mit dem Geld Kredite an Unternehmen vergeben. Vorbild ist das Funding-for-Lending-Programm der Bank von England, mit dem die britischen Währungshüter Geschäftsbanken besonders günstig Zentralbankgeld zur Verfügung stellen, wenn diese damit Kredite an Unternehmen oder private Haushalte vergeben.