EZB Minuszinsen ohne Ende

Am 01. November verlässt Draghi seinen Posten. Zum Abschied beschert er Europa noch einmal billiges Geld. Quelle: dpa

Die EZB drückt die Zinsen und flutet die Märkte. Der geldpolitische Wahnsinn lässt Finanzmärkte und Südländer jubeln. Der Wohlstand aber bleibt auf der Strecke.

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Eines muss man Mario Draghi lassen. Der Italiener an der Spitze der EZB schafft es immer wieder, die Finanzmärkte in Jubelstimmung zu versetzen und eine Geldpolitik, die hochverschuldeten Ländern wie seinem Heimatland dient, als Wohlstand-für-alle-Paket zu verkaufen. Im Juni hatte Draghi im portugiesischen Sintra die Märkte auf ein geldpolitisches Knaller-Paket vorbereitet. Am Donnerstag lieferte er es. Die EZB öffnet die geldpolitischen Schleusen erneut und flutet die Finanzmärkte mit noch mehr Billig-Geld.

Konkret besteht Draghis Abschiedspaket – er scheidet am 1. November aus dem Amt – aus fünf Elementen:

  1. Der Einlagensatz, den die Zentralbank den Geschäftsbanken für deren Zentralbankguthaben berechnet, sinkt um 0,1 Punkte auf minus 0,5 Prozent tiefer in den Negativbereich. Die Zinsen bleiben auf diesem Niveau oder werden noch weiter gesenkt, bis die von der EZB prognostizierte Inflation sich nachhaltig der Zwei-Prozent-Marke nähert. Das kann noch Jahre dauern.
  2. Um die Kosten für die Banken einzudämmen, führt die EZB ein zweistufiges Staffelzinssystem ein, das Teile der Zentralbankguthaben der Banken vom Negativzins ausnimmt.
  3. Die Laufzeit der langfristigen Geldleihgeschäfte, die die EZB den Geschäftsbanken anbietet, wird um ein Jahr auf drei Jahre verlängert. Der Zins dafür orientiert sich an dem durchschnittlichen Hauptrefinanzierungssatz der EZB über die Laufzeit der Geschäfte (aktuell null Prozent). Banken, die viele Kredite vergeben, werden belohnt und bekommen im günstigsten Fall 0,5 Prozent der Leihsumme von der EZB geschenkt.
  4. Am 1. November startet die EZB ein neues Anleihekaufprogramm mit einem monatlichen Volumen von 20 Milliarden Euro. Die Käufe enden erst, wenn die EZB die Zinsen erhöht. Das kann, siehe oben, noch Jahre dauern.
  5. Die Einnahmen aus der Tilgung fälliger Anleihen im EZB-Bestand verwendet die Notenbank wie bisher für den Kauf neuer Anleihen.

Passender hätte das Paket für die Bedürfnisse der hochverschuldeten Länder im Süden der Eurozone kaum sein können. Zwar betonte Draghi, der EZB gehe es allein darum, die niedrige Inflation (aktuell liegt sie bei einem Prozent) auf den Zielwert der EZB von knapp unter zwei Prozent zu hieven. Doch hinter diesem offiziellen Ziel verbirgt sich ein anderes, hoch politisches Ziel: Die EZB will die Zinsen über das gesamte Laufzeitenspektrum weiter nach unten drücken, um den Schuldenberg der Regierungen abzuschmelzen. Im Zuge der Finanzkrise ist sie zum Büttel der Finanzminister geworden, zur Geldquelle grenzenloser Ausgabenwünsche.

In Rom und Paris wird man das Draghi-Paket daher als Aufforderung verstehen, bei Staatsausgaben und Defiziten jetzt erst recht in die Vollen zu gehen. Warum auch sparen, wenn Geld doch immer billiger wird? Auch hierzulande hat Draghis Minuszins-Politik vielen Ökonomen bereits den Verstand geraubt. Sie fantasieren von volkswirtschaftlichen Hyperrenditen durch kostenlose staatliche Kreditprogramme, haben aber vergessen, dass es kein free lunch gibt.

Da hilft es auch nicht, dass Draghi in der Pressekonferenz salbungsvoll Mahnadressen an die Finanzminister absondert, ihre Hausaufgaben zu machen. Ohnehin drängt sich der Verdacht auf, dass er damit weniger seine ausgabefreudigen Landsleute als vielmehr die öffentlichen Kassenwarte in Deutschland und den Niederlanden meint. Regierungen von Ländern mit finanzpolitischem Spielraum, so Draghi, sollten ihrer Wirtschaft mehr Impulse geben. Dann könnten auch die Zinsen wieder steigen.

Im Klartext: Deutschland soll mehr Schulden machen und die Konjunktur ankurbeln, dann hätten auch die Sparer etwas davon und würden endlich aufhören zu nörgeln. Das ist billiger MIT-Keynesianismus, der auf der Theorie fußt, die Negativzinsen seien das Ergebnis einer globalen Sparschwemme, an der die Deutschen maßgeblich beteiligt sind. Diese Theorie sieht die Zentralbanken nicht in der Rolle des (Zins)Täters, sondern als Opfer eines marktgetriebenen Sinkflugs der Zinsen. Geschickt nutzt Draghi, der selbst am MIT (Massachusetts Institute of Technology) studiert hat, die akademische Steilvorlage, um die EZB von der Schuld an ihrem ruinösen Niedrigzinswerk zu befreien. Das aber wird seine wohlstandszersetzenden Wirkungen in den nächsten Jahren beschleunigt fortsetzen.

Nicht nur, dass die Minuszinsen die Reform- und Sparanreize für die Regierungen hinwegspülen wie die Flut die Sandburgen und Wohlstand von den Gläubigern (privaten Haushalten) zu den Schuldnern (Regierungen) umverteilen. Sie zerstören auch das Geschäftsmodell der Banken, halten insolvenzreife Unternehmen künstlich am Leben, zombifizieren die Wirtschaft, verzerren die Grundlagen rationaler Investitionskalküle, beschleunigen den Kapitalverzehr und berauben die Wirtschaft ihrer Dynamik. So schafft und verstärkt die EZB die wirtschaftlichen Zustände, die ihr später als Legitimationsgrundlage für noch niedrigere Zinsen und eine noch größere Geldflut dienen dürften.

Mit den heutigen Beschlüssen hat sich die EZB tief in die Nullzinsfalle eingegraben. Je länger sie darin sitzt, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sie je wieder den Weg herausfindet. Anders als Draghi insinuiert, hat sein epischer Nullzinstrip Europa keinen neuen Wohlstand, sondern einen Scheinaufschwung beschert, der – wenn er in sich zusammenfällt – einen wirtschaftlich entkernten Kontinent zurücklässt, auf dessen ökonomischem Restbesatz Populismus, Antikapitalismus und Sozialismus gedeihen. Für die Menschen in Europa war heute kein guter Tag.

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