Flüchtlinge "Ein EU-Beitritt der Türkei hat sich erledigt"

Die Türkei will den Flüchtlingsstrom nach Europa stoppen. Der Politikwissenschaftler Roy Karadag erklärt, wie Präsident Erdogan die Flüchtlinge instrumentalisieren könnte und warum die Türkei wohl kein EU-Mitglied wird.

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Die Türkei hat einen Plan präsentiert, um die illegale Migration nach Europa zu beenden. Ist das Konzept schlüssig?

Aus türkischer Sicht definitiv. Das Land braucht die finanziellen Hilfen der EU zur Versorgung der Flüchtlinge. Auch die Visa-Erleichterungen sind dem innertürkischen Diskurs zufolge längst überfällig. Ankara nutzt seine geopolitische Bedeutung maximal aus. Und das in einer Zeit, in der Präsident Erdogan die Demokratie im Land immer weiter aushöhlt.

Zur Person

Manche haben die Hoffnung, dass die Türkei sich jetzt wieder stärker am Westen orientiert und liberale Reformen einleitet.

Weitere wirtschaftliche Liberalisierungen sind für die Türkei kein Problem. Erdogan will sein Land ja ökonomisch stärker an die EU heranführen. Eine politische Liberalisierung halte ich aber für nahezu ausgeschlossen. Mehr Demokratie wird es in der Türkei unter diesen Voraussetzungen nicht geben. Im Gegenteil.

Wieso das?

Die Europäer werden auf Kritik gegenüber der Türkei nun verzichten – egal ob es um die Einschränkungen der Presse oder der Wissenschaft geht. Das wird Erdogans Autoritarismus weiter stärken.

Bei ihrem Gipfel haben die Staats- und Regierungschefs der EU die Einschränkung der Pressefreiheit in der Türkei nicht verurteilt.

Ja, die Europäer haben das Problem, dass sie kaum Druckmittel gegen die Türkei haben. Vor 15 Jahren, als die AKP und ihre Vorgänger die Europäisierung ihres Landes aktiv anstrebten, war das nicht der Fall. Damals konnte man Bedingungen für finanzielle Leistungen und politische Unterstützung diktieren. Jetzt ist es andersherum. Die Türkei gibt den Ton an.

Was können die Europäer tun, um nicht zu abhängig von Ankara zu werden?

Kaum etwas. Den Europäern fehlt der Wille Millionen weitere Flüchtlinge zu integrieren. Deshalb haben sie sich für den Weg in die Abhängigkeit entschieden. Erdogan hat die EU im Griff: Er hatte ja bereits angedroht, jederzeit Hunderttausende neuer Flüchtlinge nach Europa durchzulassen, was die EU um jeden Preis verhindern möchte. 

Auf Dauer macht sich die EU aber unglaubwürdig, wenn sie zuschaut, wie die Demokratie in der Türkei zurückgedrängt wird.

Ja, gerade die Pressefreiheit ist für ein demokratisches Gemeinwesen entscheidend. Eigentlich dürfte die EU nicht wegschauen. So lange aber der syrische Bürgerkrieg tobt, haben die Europäer keinen Einfluss. Damit müssen wir umgehen lernen. Ebenso die türkische Zivilgesellschaft, die sich verständlicherweise von der EU verraten fühlt.

Warum mehr Flüchtlinge in der Türkei Erdogan nützen

Die Türkei erwartet nun mehr Tempo bei den EU-Beitrittsverhandlungen. Was ist hier zu erwarten?

Die Türkei will nur zu ihren Bedingungen der EU beitreten. Und die sind für die EU nicht hinnehmbar – Stichwort Demokratie, Stichwort Pressefreiheit. Aus europäischer Sicht gibt es aber noch etwas anderes zu bedenken: Die EU will ganz sicher keine Außengrenzen zu instabilen Ländern wie  Syrien und Irak haben. Damit hat sich ein EU-Beitritt der Türkei erledigt.

Reaktionen zu möglichen Grenzschließungen

Warum dann überhaupt die Verhandlungen?

Die Türkei will Stärke demonstrieren. Erdogan möchte zeigen, dass man außenpolitisch ein derartiges Gewicht hat, wie noch nie in der Geschichte zuvor. Damit legitimiert er seine Macht nach innen. 

Kann sich Europa eigentlich darauf verlassen, dass die Türkei ihre Zusagen einhält, wenn es zu einem Deal in der Flüchtlingskrise kommt?

Ja, davon gehe ich aus. Trotzdem ist die Türkei natürlich ein schwieriger Partner, zumal die Situation von der Dynamik des Syrien-Kriegs überlagert wird. Erdogan wird unvorhersehbare Entwicklungen und Wendungen für sich nutzen und den Europäern weitere Leistungen abverlangen.

Wie lange hält es die Türkei aus, Sammelbecken für syrische Flüchtlinge zu sein?

Mit den EU-Geldern kann die Türkei die Flüchtlinge besser in den Arbeitsmarkt und ins Bildungssystem integrieren. Erdogan geht es aber vor allem um eine politische Rechnung. Je mehr syrische Flüchtlinge in der Türkei sind, desto größer wird der Einfluss der Türkei für die Zeit nach dem Bürgerkrieg in Syrien.

Es ist im Interesse Erdogans mehr Flüchtlinge ins Land zu holen?

Natürlich war das so nicht gewollt, und für die Türkei ist es auch nicht einfach. Aber es nützt ihm politisch. Wenn der Krieg irgendwann vorbei ist, werden alle Kriegsparteien Bilanz ziehen. Die Kurden werden ihre Verdienste im Kampf gegen den Islamischen Staat betonen. Und die Türken werden sagen, dass sie ihrer humanitären Verantwortung nachgekommen sind und Europa in einer extrem schwierigen Lage geholfen haben. Wenn es dann darum geht, die Nachkriegsordnung zu gestalten, dürften die Türken gegenüber den Kurden im Vorteil sein. Das ist für Erdogan überaus wichtig.

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