Flüchtlinge Wie Merkel ihr Erdogan-Problem loswerden kann

Soll Deutschland das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei aufkündigen, Merkel Erdogan brüskieren? Nein, die Zusammenarbeit mit der Türkei muss ein Erfolg werden. Merkel hat aber eine andere Möglichkeit, um nicht wie Erdogans Vasallin zu wirken.

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epa05325037 Turkish President Recep Tayyip Erdogan (R) and German Chancellor Angela Merkel (L) attend the World Humanitarian Summit, in Istanbul, Turkey, 23 May 2016. World leaders meet on 23 and 24 May 2016 in Istanbul for an inaugurational summit on common humanity and to prevent and reduce human suffering. EPA/OZAN KOSE / POOL +++(c) dpa - Bildfunk+++ Quelle: dpa

Es gibt wohl keinen besseren Tag, um als deutscher Regierungschef für Menschenrechte und (Meinungs-)Freiheit einzutreten als den 23. Mai. Heute vor 67 Jahren wurde das deutsche Grundgesetz verkündet.

In Istanbul sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gegenüber dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan von „tiefer Besorgnis“, nachdem am vergangenen Freitag ein Viertel der türkischen Abgeordneten ihre Immunität verloren hatten – allesamt Kurden und damit (politische) Gegner Erdogans. Der Staatspräsident will sein Land in eine Präsidialrepublik umbauen – mit ihm als mächtigen Mann an der Spitze. Die Kurden stehen ihm für diese Verfassungsänderung im Weg.

Merkel pochte auf eine unabhängige Justiz und Medien sowie starke Parlamente, auf viel Gegenliebe dürfte sie bei Erdogan nicht gestoßen sein. „Die Fragen sind nicht vollständig geklärt, die ich in diesem Zusammenhang hatte“, sagte Merkel im Anschluss an das Gespräch.

Seit Tagen diskutiert Deutschland, wie Merkel und die Bundesregierung mit der türkischen Führung umgehen sollen. Laut einer Handelsblatt-Umfrage lehnen 59 Prozent der Deutschen das Flüchtlingsabkommen ab. Viele sind besorgt, Merkel habe sich in eine zu große Abhängigkeit begeben. Doch was tun? Das Flüchtlingsabkommen aufkündigen? Die Visa-Freiheit nicht nur verschieben, sondern absagen? Erdogan in regelmäßigen Abständen öffentlich brüskieren?

Zunächst zwei Zahlen: Im vergangenen Jahr starben laut Europäischer Stabilitätsinitiative 805 Menschen auf der Ägäis. Im Januar – vor dem EU-Türkei-Abkommen – waren es noch 275, im April schließlich – das Abkommen mittlerweile in Kraft – noch 10. Unabhängig davon, wie man zu der Übereinkunft steht: Sie rettet Leben und macht den Schleppern zumindest zeitweilig das Geschäftsmodell kaputt.

Wird das Flüchtlingsabkommen deswegen ein Erfolg? Für ein klares Ja oder Nein ist es zu früh. Doch es gibt viele Probleme. Auf den griechischen Inseln sitzen laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) derzeit über 8.500 Flüchtlinge fest. Für etwa die Hälfte der Menschen kann die griechische Regierung Plätze zur Verfügung stellen, entsprechend angespannt ist die Lage. Zudem fehlen den Behörden vor Ort die Ressourcen, um die Fälle der dort Gestrandeten schnell und effizient bearbeiten zu können.

Warum Deutschland wieder mehr Flüchtlinge aufnehmen muss

Soll das Flüchtlingsabkommen ein Erfolg werden, müssen diese Missstände schnellstmöglich behoben werden. Doch müsste es Deutschland nicht schon aus moralischen Gründen aufkündigen? Die Frage ist angesichts von Erdogans Machtposen verständlich. Aber die Alternative besteht darin, dass zigtausende Flüchtlinge binnen kürzester Zeit in Griechenland stranden würden. Sie würden wohl alles daran setzen, Richtung Norden und Deutschland weiterzukommen – notfalls auch mit Gewalt. Ob mazedonische Grenzpolizisten diese Lage über einen längeren Zeitraum beherrschen können, darf bezweifelt werden.

Nein, zum EU-Türkei-Abkommen gibt es derzeit keine Alternative. Dennoch kann Merkel dem Eindruck entgegenwirken, sie sei eine Vasallin Erdogans.

Die frühere US-Außenministerin Madeleine Albright, der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer und der ehemalige griechische Premierminister George Papandreou haben in der Zeit einen Vorschlag gemacht, wie das funktionieren kann. „Die EU muss auch zu ihrer Verpflichtung stehen, im Rahmen eines freiwilligen humanitären Aufnahmeplans eine groß angelegte Umsiedlung von Flüchtlingen aus der Türkei zu verwirklichen“, schreiben die drei Politiker in einem Gastbeitrag. Die Umsiedlung von 150.000 bis 250.000 Flüchtlingen sei leicht zu realisieren, wenn sich mehr europäische Länder zu einer Beteiligung bereit erklärten. Das Erpressungspotential, das Erdogan derzeit genüsslich ausnutzt, würde in einem solchen Fall geringer werden.

Die Bundesregierung hatte im Herbst letzten Jahres noch gesagt, eine halbe Million Flüchtlinge pro Jahr aufnehmen zu können – auch via Kontingente. Im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sprach Merkel zuletzt zwar über „freiwillige humanitäre Kontingente“. Ob und wie viele Syrer Deutschland aus der Türkei aufnehmen wird, sagte sie aber nicht. Wenn sich die Kanzlerin in der Flüchtlingsfrage von Erdogan emanzipieren möchte, sollte sie diese Debatte endlich führen.

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