Gerade sah Martin Schanung den berühmten Silberstreif am Horizont, da scheint er auch schon wieder zu verschwinden. „Jahrelang lag die Bauwirtschaft in Italien am Boden“, sagt der Südtiroler. Erst seit dem vergangenen Jahr erhole sich die Branche ein wenig – und jetzt die Grenzkontrollen am Brenner zwischen Österreich und Italien. Schanung versteht die Welt nicht mehr.
Der Endfünfziger ist Geschäftsführer bei Grünig, einem kleinen Unternehmen mit 30 Mitarbeitern aus Sterzing, eine halbe Autostunde südlich des Brennerpasses. Grünig baut in den Alpen Steine ab und verarbeitet sie etwa zu Fliesen für Treppenhäuser und Wohnzimmer oder zu Bodenplatten für Schwimmbäder und Wellnessoasen in Hotels. Die Silberquarzit-Platten von Grünig liegen etwa im Hallenbad von St. Moritz und im Spa-Bereich des Intercontinental Hotels in Davos.
An einem kalten Aprilmorgen sitzt Schanung im Büro des Zweitwerks in Pfunders, einem 200-Seelen-Nest nicht weit vom Stammsitz in Sterzing. Draußen wirbeln letzte Flocken; die steil aufragenden Zwei- und Dreitausender bilden eine imposante Kulisse. „Mehr als 40 Prozent unserer Platten und Fliesen gehen in den Export“, sorgt sich Schanung, „fast alles über den Brenner Richtung Norden.“
Dazu kommt: Grünig importiert Steine aus Übersee und verarbeitet sie in Südtirol weiter. Diese kommen ebenfalls über den Brenner in die Grünig-Fabriken. „Die schieben das Flüchtlingsproblem einfach auf uns ab“, sagt Schanung mit Blick auf die Grenzkontrollen, mit denen Österreich Anfang des kommenden Monats am Brenner beginnen will.
Europa ist in Aufruhr. Weil die Balkanroute für Flüchtlinge praktisch abgeriegelt ist, dürften in diesem Jahr deutlich mehr Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Italien kommen, fürchten die Politiker in den Hauptstädten.
Die Regierung in Wien geht davon aus, dass sich die Asylsuchenden nach Norden Richtung österreichische Grenze aufmachen werden. Trotz schärferer Asylgesetze werde der Flüchtlingsstrom zur ernsten Gefahr für die öffentliche Sicherheit, glaubt Österreichs Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil und will das Nadelöhr zwischen Nord- und Südeuropa im „Extremfall mit massiven Kontrollen“ komplett „dicht“ machen.
Kontrollen ab 1.Juni
Unternehmer, Experten und Verbandsvertreter rechnen bei dauerhaften Grenzkontrollen oder einer möglichen Schließung des Brenners mit wirtschaftlichen Schäden in Milliardenhöhe – für Südtirol, für Italien, am Ende für ganz Europa.
Tatsächlich sind bis Ende April fast 30.000 Flüchtlinge in Italien angekommen, doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. Wien rechnet damit, dass in diesem Jahr rund 300.000 Flüchtlinge in Italien an Land gehen werden.
Bislang hat Österreich am Brenner lediglich eine Leitplanke abgebaut, damit Polizei und Zoll Fahrzeuge einfacher herauswinken können. Außerdem sind kleine Fundamente für den Sonnenschutz der Kontrolleure gegossen.
In der vergangenen Woche wollte Österreich allerdings schon damit beginnen, entlang der Brenner-Grenze Löcher für Zaunpfähle zu bohren. Südtirols Landeshauptmann Arno Kompatscher konnte seine Kollegen auf der anderen Seite der Grenze im letzten Augenblick dazu bewegen, noch abzuwarten. Fest steht aber, dass Österreich am 1. Juni, pünktlich zu Beginn der Urlaubssaison, mit den Kontrollen am Brenner beginnen will.
Kontrollen könnten Exportwirtschaft gefährden
Rund elf Millionen Fahrzeuge rollen jedes Jahr über die Passstraße. Zwei Millionen davon sind schwere Lkw, die Waren von Süden nach Norden und Norden nach Süden bringen: insgesamt 42 Millionen Tonnen im Jahr.
In Südtirol sorgen sich Politik und Wirtschaft vor allem um die Exportwirtschaft der Provinz. Güter im Wert von mehr als vier Milliarden Euro exportiert Südtirol jedes Jahr: unter anderem Äpfel, Gemüse, Autoteile und Kunststoff-Vorprodukte. Vieles davon geht über den Brenner nach Deutschland und Österreich.
In den vergangenen zwei Jahren sind Südtirols Ausfuhren mit teils hohen zweistelligen Raten gewachsen. Sollten Österreichs Behörden die Transporte demnächst am Brenner aufhalten, dürften Kunden in Deutschland und Österreich woanders ordern, und mit den satten Exportzuwächsen Südtirols, dessen Wirtschaft in diesem Jahr immerhin um 1,7 Prozent wachsen dürfte, wäre es vorbei.
So viel Geld bekommen Flüchtlinge in den europäischen Ländern
800 Euro zahlt das Land im Monat pro Flüchtling. Die Summe muss allerdings versteuert werden.
Quelle: EU-Kommission / Frontex, Stand: 18. September 2015
Die Spanne, die der Inselstaat für einen Asylbewerber zahlt, liegt zwischen 85 und 452 Euro pro Monat.
400 Euro pro Flüchtling / Monat.
352 Euro pro Flüchtling / Monat.
330,30 Euro pro Flüchtling / Monat.
zwischen 85 und 290 Euro pro Flüchtling / Monat.
zwischen 176 und 276 Euro pro Flüchtling / Monat.
232 Euro pro Flüchtling / Monat.
225 Euro pro Flüchtling / Monat.
187 Euro pro Flüchtling / Monat.
177 Euro pro Flüchtling / Monat.
66 Euro pro Flüchtling / Monat.
33,23 Euro pro Flüchtling / Monat.
20 Euro pro Flüchtling / Monat.
18 Euro pro Flüchtling / Monat.
12 Euro pro Flüchtling / Monat.
0 Euro pro Flüchtling / Monat.
Wie keine andere Provinz Italiens lebt Südtirol von der Integration mit den Nachbarn Österreich und Deutschland. In der Region herrscht praktisch Vollbeschäftigung; in der Industrie fehlen Fachkräfte, auch Mediziner sind knapp. Viele Deutsche und Österreicher leben und arbeiten darum in Südtirol, andere pendeln täglich. „Die Grenze ist eigentlich keine Grenze“, sagt Alfred Aberer, Generalsekretär der Handelskammer in Bozen. Am Wochenende karren Busse massenhaft Südtiroler in die entgegengesetzte Richtung nach München zum Einkaufen und Essen. Die bayrische Landeshauptstadt ist die nächstgelegene Großstadt.
Tourismusbranche in Gefahr
Schwer treffen würden Staus und Chaos am Brenner den Tourismus. Etwa 17 Prozent trägt der Fremdenverkehr zur Wirtschaftsleistung Südtirols bei. Im vergangenen Jahr zählte die Provinz 30 Millionen Übernachtungen.
Sollten Dauerstaus den Brenner verstopfen, dürften sich Touristen verstärkt für Urlaubsziele in Österreich oder der Schweiz entscheiden. Sinkt aber die Zahl der Touristen in Italien nur um ein Prozent, fehlen Südtirol etwa 30 Millionen Euro an Wertschöpfung, rechnet Aberer vor. „Eine Grenzschließung zwingt Italien nicht in die Knie“, sagt Georg Lun, Direktor des Instituts für Wirtschaftsforschung in Bozen, „bei Südtirol sieht das schon anders aus.“
Doch auch die italienische Regierung rechnet bei einem blockierten Brenner mit wirtschaftlichen Schäden für den Rest des Landes, vor allem wegen der dann ausbleibenden Besucher aus dem Ausland. Österreich rechnet bei Staus und Wartezeiten durch Grenzkontrollen mit Verlusten von täglich etwa einer Million Euro für die Logistikbranche.
Der Vertreter der Spediteure in Südtirol ist Elmar Morandell, ein leicht ergrauter Tiroler mit buschigem Schnauzbart und herzlichem Lachen. 260 Spediteure aus der Region vertritt Morandell, er selbst hat ein Transportunternehmen mit 45 Zugmaschinen und 70 Angestellten. Seine Lkw fahren unter anderem Fracht über den Brenner nach Deutschland zu den Fabriken von Siemens, Bosch und Mercedes. „Wenn es an der Grenze bald langwierige Kontrollen gibt, kann es in den Werken in Deutschland schnell zu Produktionsausfällen kommen“, warnt Morandell.
Schleuser könnten Stau am Brenner nutzen
Zurzeit ist Südtirols oberster Spediteur oft in Brüssel. Bei den EU-Behörden warnt er vor den Folgen von Grenzschließungen. Morandell beschäftigt seine Fahrer zu italienischen Konditionen; mit Verträgen, bei denen Fahrer über Firmen in Bulgarien oder Rumänien angemeldet sind, will er nichts zu tun haben. Etwa 240 Euro kostet ein italienischer Fahrer am Tag.
Jeder Tag Wartezeit hinterlässt darum tiefe Spuren in den Bilanzen der Spediteure. Die höheren Kosten werden die Transportunternehmer vermutlich an ihre Kunden weitergeben. Und diese dürften in der Folge die Preise für ihre Produkte erhöhen – eine Kettenreaktion.
Dazu kommt: Stauen sich die Lkw am Brenner, ist es für Flüchtlinge leichter, auf die Trucks Richtung Norden aufzuspringen. Schon jetzt versuchen Flüchtlinge immer wieder, sich in Anhängern und hinter Zugmaschinen zu verstecken, um nach Österreich zu gelangen. Schleuser bauen beispielsweise nachts an den hinteren Türen der Lkw-Aufbauten die kompletten Gestänge der Türen ab. So bringen sie Flüchtlinge in die Auflieger, ohne die Plomben zu verletzen.
Manchmal verstecken sich Flüchtlinge auch in den Achsräumen – nicht selten eine tödliche Falle. Morandell kann von grausigen Szenen berichten, bei denen Flüchtlinge von den Achsen auf die Straße gefallen sind und anschließend überrollt wurden.
"Ein Land wie Italien kann seine Grenzen nicht alleine sichern"
Der Waltherplatz im Zentrum der Südtiroler Landeshauptstadt Bozen ist einer der malerischsten Orte der Region. An einem sonnigen Aprilnachmittag spielt eine Band, auf dem Kopfsteinpflaster wird getanzt. Über den Platz geht der Blick aufs Café Mozart und ein kleines Geschäft mit Sacher-Torten in den Auslagen. Daneben haben Verkäufer ihre Marktstände aufgebaut. Sie preisen Oliven, Salami und Käse an. Auf dem Waltherplatz lässt sich exemplarisch die Vermischung der österreichischen und italienischen Kultur besichtigen.
Was Flüchtlinge dürfen
Wer eine sogenannte Aufenthaltsgestattung bekommt, darf nach drei Monaten in Deutschland eine betriebliche Ausbildung beginnen. Wer geduldet ist, kann vom ersten Tag an eine Ausbildung machen. In beiden Fällen ist jedoch eine Erlaubnis durch die Ausländerbehörde nötig.
Gleiches gilt für Praktika oder den Bundesfreiwilligendienst beziehungsweise ein freiwilliges, soziales Jahr: Personen mit Aufenthaltsgestattung können nach drei Monaten ohne Zustimmung der ZAV damit beginnen, wer den Status „geduldet“ hat, darf das ab dem ersten Tag.
Wer studiert hat und eine Aufenthaltsgestattung besitzt, darf ohne Zustimmung der ZAV nach drei Monaten eine dem Abschluss entsprechende Beschäftigung aufnehmen, wenn sie einen anerkannten oder vergleichbaren ausländischen Hochschulabschluss besitzen und mindestens 47.600 Euro brutto im Jahr verdienen werden oder einen deutschen Hochschulabschluss besitzen (unabhängig vom Einkommen).
Personen mit Duldung können dasselbe bereits ab dem ersten Tag des Aufenthalts.
Personen mit Aufenthaltsgestattung können nach vierjährigem Aufenthalt jede Beschäftigung ohne Zustimmung der ZAV aufnehmen.
„Eine Schließung des Brenner wäre auch psychologisch schwierig“, sagt Schanung, der Geschäftsführer des Fliesenherstellers aus Sterzing. Traditionell fühle man sich Österreich zugehörig. Südtirol wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg Italien zugeschlagen. „Eine neue Trennung von Österreich täte weh“, sagt Schanung. Andererseits versteht der Unternehmer die Sorgen der Österreicher. „Man kann das nicht einfach so laufen lassen“, sagt er mit Blick auf die Flüchtlingsströme, „zumal ein Land wie Italien seine Grenzen nicht alleine sichern kann.“