Das Verhältnis zu Europa, insbesondere zu Deutschland spielt im französischen Wahlkampf eine zentrale Rolle. Als offen EU-feindlich und als „Anti-Merkel“ präsentiert sich Marine Le Pen. Bereits sechs Monate nach der Wahl sollen die Franzosen in einem Referendum über einen EU-Austritt abstimmen. Ihr Versprechen: den Franzosen die Souveränität zurückzugeben. In Frage gestellt hat sie auch die Nato-Mitgliedschaft und Freihandelsverträge.
Das Ende Europas? Was die Frankreichwahl für Brüssel und Berlin heißt
Es steht eine Menge auf dem Spiel. Vizekanzler Sigmar Gabriel wittert eine konkrete Gefahr, EU-Kommissar Pierre Moscovici fürchtet sogar „das Ende Europas, wie wir es kennen“. Die Präsidentschaftswahl in Frankreich, die am Sonntag in die erste Runde geht, lehrt viele in Berlin und Brüssel das Fürchten.
Selbst wenn es die Rechtspopulistin Marine Le Pen am Ende nicht ins höchste Staatsamt schafft, droht eine Zäsur für die Europäische Union und auch für Deutschland. Denn wie Le Pen kommt auch Links-Außen Jean-Luc Mélenchon mit Breitseiten gegen Brüssel auf starke Umfragewerte. Damit treiben sie selbst die europafreundlichen Mitte-Kandidaten Emmanuel Macron und François Fillon vor sich her. Nach dem Brexit-Schock und dem Wahlsieg von Donald Trump in den USA zittert Europa erneut vor dem unberechenbaren Frust der Enttäuschten und Entfremdeten.
Front-National-Chefin Le Pen hat eine klare Ansage gemacht: Als Präsidentin will sie binnen sechs Monaten ein Referendum über das Ausscheiden ihres Landes aus der EU. Den Euro will sie wieder durch eine eigene Währung ersetzen, das Schengen-Abkommen zum freien Reisen kündigen und die französischen Grenzen abschotten. Der Linke Mélenchon will die europäischen Verträge neuverhandeln - und sie andernfalls verlassen. Ein „Frexit“ aber wäre weit dramatischer als der EU-Austritt Großbritanniens. Denn damit bräche ein Gründerstaat weg - das Land, das mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg das Einigungsprojekt maßgeblich vorantrieb. Die zweitgrößte Volkswirtschaft ginge verloren. Die bisherige EU wäre am Ende.
Frankreich hatte zuletzt Probleme mit diversen EU-Vorgaben, die Deutschland klar unterstützt. Wegen der Wirtschaftsflaute sprengte Paris die im Euroraum vereinbarte Defizitgrenze von 3,0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Während Brüssel auf Einhaltung der Regeln pocht, kritisieren Le Pen und Mélenchon Gängelei. Zweites heißes Eisen ist die EU-Flüchtlingspolitik mit der Umverteilung von Ankömmlingen aus Italien und Griechenland. Dritter Punkt ist die Terrorgefahr im Europa der offenen Grenzen. Übermächtig einerseits, ineffizient andererseits - EU-Skepsis hat nicht nur in Frankreich Konjunktur. Im Wahlkampf ging die Mehrzahl der elf Präsidentschaftskandidaten auf Distanz zu Brüssel.
Als aussichtsreichster Kandidat gilt trotz allem der europafreundliche Jungstar Macron. Doch war das Rennen vor dem ersten Wahlgang extrem eng und Le Pen könnte, wenn sie am Sonntag Platz eins oder zwei erreicht, zumindest in die Stichwahl am 7. Mai einziehen. In dieser Gemengelage will auch Macron nicht willfährig gegenüber Brüssel und Berlin dastehen. Zuletzt forderte er einen „Ausgleich“ für die hohen Handelsüberschüsse Deutschlands, die der Wirtschaft der Eurozone schadeten. Außerdem gilt: Kämen die beiden radikalen Kandidaten Le Pen und Mélenchon wie in Umfragen zusammen auf 40 oder mehr Prozent, wäre auch dies ein Warnschuss für Brüssel. Die Botschaft lautet wohl in jedem Fall: Die EU und die Eurozone müssen sich ändern. Doch von tiefgreifenden Reformen will Kanzlerin Angela Merkel nichts hören.
Merkel hat in den vergangenen Wochen unter anderen Fillon und Macron getroffen, nicht aber Le Pen. Zwischen der Politik der Front National und der Politik der Bundesregierung gebe es „überhaupt keine Berührungspunkte“, beteuerte ihr Sprecher. Weder Merkel noch ihr SPD-Rivale Martin Schulz würden wohl den Schulterschluss mit einem Staatsoberhaupt suchen, das Frankreich aus der EU führen will. Die jahrzehntealte, so wichtige Freundschaft beider Länder würde heruntergekühlt bis zum Gefrierpunkt - ein bitterer Rückschlag für Deutschland und Frankreich und für ganz Europa.
Merkel steht für ein starkes Europa. In vielen EU-Staaten gibt es zwar seit der Finanz- und Schuldenkrise Unmut über ihre strikten Spar- und Reformvorgaben. Doch wenn es darum geht, die Europäische Union als starken Verbund von 500 Millionen Menschen etwa gegen die USA oder China oder Russland herauszustellen, versammeln sich EU-Länder auch gern hinter der Kanzlerin. Im Ausland wird Merkel als mächtigste Frau Europas wahrgenommen. Sollte sich Frankreich von der EU abwenden, würden sich andere Staaten umso mehr an Deutschland wenden, wenn es um europäische Belange ginge. Das wäre wohl auch so, falls Schulz nach der Bundestagswahl im Herbst Kanzler würde.
Hier gibt es mehrere Lesarten. Die einen sagen, würde Le Pen tatsächlich die Wahl gewinnen, sei Merkels Wiederwahl so gut wie sicher. Die Begründung: Viele Bürger in Deutschland wollten nach der Brexit-Entscheidung, der Trump-Wahl und einem möglichen Le-Pen-Schock nicht auch noch zuhause einen Wechsel. Die anderen meinen, Schulz schaffe es, auch potenziellen Wählern der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland das Gefühl zu vermitteln, dass er sie und ihren Ärger und Protest ernst nehme. Das könnte die SPD stärken. Und wieder andere glauben, ein Sieg Le Pens würde der AfD neuen Schub geben. Derzeit sieht es aber eher nach einem Duell der beiden europafreundlichen Volksparteien Union und SPD aus.
Eher EU-skeptisch präsentiert sich auch der linke Kandidat Jean-Luc Mélenchon. Er hat angekündigt, dass er die EU-Verträge neu verhandeln möchte. Das ist nicht die einzige Ähnlichkeit zwischen Mélenchon und Le Pen. Die Unterschiede werden allerdings in der Einwanderungspolitik deutlich: Während die Front National-Chefin die Quoten für die Einwanderung von derzeit 40.000 auf 10.000 senken will, vertritt Mélenchon den Standpunkt, dass Menschen nicht freiwillig zu Migranten werden, sondern dazu gemacht werden. „Und wir müssen sie so behandeln, wie wir behandelt werden möchten.“
Besonders radikal – und unvereinbar mit der EU-Mitgliedschaft - war Le Pens Reaktion nach dem Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo 2015. Über Twitter hatte sie eine Volksabstimmung über die Einführung der Todesstrafe gefordert. Im Wahlprogramm ist sie gemäßigter: Sie fordert „wirkliche“ lebenslange Haftstrafen für besonders schwere Verbrechen. Konkret heißt das: Lebenslang Gefängnis – ohne die Aussicht auf Haftentlassung. Die Hintertür für eine Volksinitiative zur Todesstrafe, die 1981 abgeschafft wurde, ist aber nicht zu.
Die anderen Kandidaten erregen vor allem mit ihren wirtschaftspolitischen Vorschlägen Aufmerksamkeit: So will der konservative Präsidentschaftsbewerber Francois Fillon 500.000 Stellen im öffentlichen Dienst streichen, um die Staatsquote auf unter 50 Prozent zu drücken, die bislang bei über 56 Prozent liegt. Insgesamt will er 60 Milliarden Euro bei öffentlichen Ausgaben einsparen, unter anderem in den Kranken- und Arbeitslosenversicherungen sowie beim Staatsapparat selbst. Der unabhängige Kandidat Emmanuel Macron, der Umfragen zufolge große Chancen hat, sich im entscheidenden zweiten Wahlgang durchzusetzen, will den Staatsapparat auch abspecken, aber nur um 120.000 Stellen, die nach Pensionierungen nicht mehr nachbesetzt werden sollen.
Schon seit Jahren verletzt das Land die Drei-Prozent-Defizitgrenze des europäischen Stabilitätspaktes deutlich. Die weitere Reduzierung der Ausgaben und die Reformierung des Arbeitsmarktes könnten zu einer der wichtigsten Aufgaben des neuen französischen Präsidenten werden. Wie eine Anfang April veröffentlichte Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft zeigt, wird Frankreich zukünftig nicht an großflächigen Reformen vorbeikommen. Das Land steht mittlerweile in der globalen Wettbewerbsfähigkeit auf Platz 21 von 138 Ländern. Zum Vergleich: Deutschland belegt Platz fünf.
Frankreichs Wettbewerbsfähigkeit ist schwach
Macron und Fillon wollen beide eines der Vorzeige-Projekte der Sozialisten abschaffen: die 2000 eingeführte 35-Stunden-Woche. Damals sollte die allgemeine Arbeitszeitverkürzung zu mehr Arbeitsplätzen führen. Das ist nicht gelungen, viel mehr hat die Wettbewerbsfähigkeit französischer Unternehmen im internationalen Vergleich abgenommen, die Arbeitslosigkeit hingegen nahm zu und liegt seit August 2016 nur knapp unter zehn Prozent. Im europäischen Vergleich liegt Frankreich als zweitgrößte Volkswirtschaft (nach Deutschland) nur auf Platz sechs – und über dem europäischen Durchschnitt.
Frankreichs Präsident - das mächtigste Staatsoberhaupt
Von allen Staatsoberhäuptern der Europäischen Union hat der französische Präsident die größten Vollmachten. Seine starke Stellung verdankt er der Verfassung der 1958 gegründeten Fünften Republik, ihr erster Präsident war General Charles de Gaulle.
Der Staatschef wird seit 1965 direkt vom Volk gewählt und kann beliebig oft wiedergewählt werden. Seit 2002 beträgt seine Amtszeit noch fünf statt sieben Jahre.
Der Präsident verkündet die Gesetze, kann den Premierminister entlassen und die Nationalversammlung auflösen. In Krisenzeiten kann er den Notstandsartikel 16 anwenden, der ihm nahezu uneingeschränkte Vollmachten gibt.
Der Staatschef ist gegenüber dem Parlament nicht verantwortlich. Durch eine 2007 beschlossene Verfassungsänderung sind Staatschefs im Amt vor Strafverfolgung ausdrücklich geschützt. Das Parlament kann den Präsidenten nur bei schweren Verfehlungen mit Zweidrittelmehrheit absetzen.
Frankreichs Staatschef ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte und hat in der Verteidigungs- und Außenpolitik das Sagen. Seine stärksten Druckmittel sind der rote Knopf zum Einsatz von Atomwaffen und das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat.
Der Präsident ernennt den Premierminister und auf dessen Vorschlag die übrigen Minister, leitet die wöchentlichen Kabinettssitzungen und nimmt Ernennungen für die wichtigsten Staatsämter vor.
Seine Macht wird jedoch eingeschränkt, wenn der Regierungschef aus einem anderen politischen Lager kommt und der Präsident keine eigene Mehrheit in der Nationalversammlung hat. Dieser Fall der „Kohabitation“ war bei der Verabschiedung der Verfassung nicht vorgesehen. Er trat aber bereits drei Mal ein, zuletzt 1997 bis 2002, als der konservative Staatschef Jacques Chirac mit dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin auskommen musste.
Während Macron und Fillon die Franzosen mehr arbeiten sehen wollen, will der Linke-Kandidat Mélenchon das Gegenteil: eine 32-Stunden-Woche. Außerdem soll der Netto-Mindestlohn auf 1326 Euro steigen. Derzeit liegt er bei 1300 Euro brutto. Marine Le Pen hat sich explizit für die 35-Stunden-Woche ausgesprochen.
Mit der Kriminalitätsbekämpfung wollen sich sowohl Macron als auch Le Pen profilieren: Macron will 10.000 zusätzliche Polizisten einstellen und 15.000 neue Gefängnisplätze schaffen, während Marine Le Pen sogar noch höher pokert: Sie fordert 15.000 neue Stellen für Polizisten und 40.000 weitere Plätze in den Gefängnissen. Diese platzen ohnehin aus allen Nähten.
Kurz vor den Wahlen wurden dei Sicherheitsmaßnahmen noch einmal verstärkt, Francois Fillon soll besonders gefährdet sein. Die Präsidentenwahl am Sonntag wird von 50.000 Polizisten und Soldaten geschützt. Erst am Dienstag wurden in Marseille zwei mutmaßliche Islamisten festgenommen, in deren Wohnung ein Waffenarsenal versteckt war. Laut Anti-Terrorstaatsanwalt François Molins drohte ein Anschlag in den nächsten Tagen.
Drei Tage vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahl kämpfen die Favoriten Marine Le Pen und Emmanuel Macron mit sinkenden Umfragewerten. Trotzdem sieht es noch danach aus, als ob es diese beiden Kandidaten in die Stichwahl schaffen würden. Beide kämen laut einer am Montag veröffentlichten Umfrage des Instituts Opinionway derzeit auf je rund 22 Prozent der Stimmen. Francois Fillon liegt trotz der Affäre um die Scheinbeschäftigung noch immer in Schlagweite, ebenso wie Jean-Luc Mélenchon, der durch die zwei Fernsehduelle und eine klare Social Media Strategie, in den vergangenen Wochen deutlich aufholen konnte.