Deutlicher als Macron spricht Le Pen den neuen Gegensatz aus, dem sie ihren Wählerzuspruch verdankt. In der Einleitung zu ihren „144 Verpflichtungen“, also ihrem Wahlprogramm, stellt Le Pen zwei "Visionen" gegenüber: „Die globalistische Entscheidung auf der einen Seite, vertreten durch alle meine Konkurrenten, die versucht, unsere großartigen wirtschaftlichen und sozialen Gleichgewichte zu zerstören, die die Abschaffung aller Grenzen will, ökonomischer und materieller, und die noch mehr Einwanderung und weniger Zusammenhalt der Franzosen möchte. Andererseits die patriotische Wahl, für die ich stehe, die die Verteidigung der Nation und des Volkes ins Zentrum jeder öffentlichen Entscheidung stellt und vor allem den Schutz unserer nationalen Identität, unserer Unabhängigkeit, der Einheit der Franzosen, der sozialen Gerechtigkeit und des Wohlstands Aller will.“
Der Anspruch, weder rechts noch links zu sein, ist das einzige, was Macron mit Le Pen verbindet. Beide lassen die abgenutzten politischen Kategorien der Vergangenheit hinter sich.
Das ist Marine Le Pen
Marine Le Pen, Tochter des Politikers und FN-Gründers Jean-Marie Le Pen wurde am 5. August 1968 in Neuilly-sur-Seine geboren. Als Kind überlebte sie ein Attentat, das 1976 gegen das Wohnhaus der Familie verübt wurde. Die 46-Jährige war mit Geschäftsmann Franck Chauffroy verheiratet. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Nach der Scheidung heiratete sie den FN-Funktionär Éric Lorio. Auch diese Ehe scheiterte. Marine Le Pen studierte in Paris Jura und erhielt 1992 die Anwaltszulassung. Bis 1998 war sie als Anwältin tätig. Besonders markant ist ihre dominante und und für eine Frau sehr tiefe Stimme.
Seit Marine Le Pen den Parteivorsitz inne hat, versucht sie frischen Wind in den „Front National“ zu bringen. So hat sie sich zum Ziel gesetzt, Anspielungen auf das Dritte Reich zu vermeiden, um das Bild einer rechtsextremen Partei loszuwerden. Dazu passt auch, dass sie sich stärker auf die Alltagsprobleme der Bürger fokussiert. Die hohe Arbeitslosigkeit und steigende Preise sind nun die neuen zentralen Themen. Ihre Rezepte zur Überwindung der Krise: Heimische Investoren sollen von einer Abwanderung abgehalten werden, Franzosen sollen bei der Jobsuche bevorzugt werden und das Land aus dem Euro austreten. Feindbild ist die "wilde Globalisierung".
Von 1998 bis 2004 war Marine Le Pen Abgeordnete im Parlament der Region Nord-Pas-de-Calais. Über ihren Wahlkreis Île-de-France zog sie 2004 ins Europaparlament ein. Nach Stationen im Regionalparlament der Île-de-France wurde sie 2011 an die Parteispitze des Front National gewählt. Bei der Präsidentenwahl 2012 wurde sie nach Hollande und Sarkozy drittstärkste. Zeitweise sahen Umfrageergebnisse, die im Magazin „Le Nouvel Observateur“ erschienen sind, den Front National als stärkste französische Partei. Seit der Europawahl im Mai 2014 ist sie Abgeordnete im Europäischen Parlament.
Eine explizite Feindschaft zum Islam gehört zu den zentralen Positionen Le Pens und ihrer Partei. Eine entsprechende Äußerung in einer Wahlkampfrede im Dezember 2010 brachte Le Pen ins Visier der Staatsanwaltschaft. Sie verglich öffentliche Gebete von Muslimen mit der deutschen Nazi-Besatzung. "Sicher geschieht dies ohne Panzer und ohne Soldaten, aber trotzdem ist es eine Besatzung, und betroffen sind die Einwohner", so Le Pen.
Aber während Le Pen „die Linke des Zasters und die Rechte des Zasters“ verunglimpft, findet Macron kein kritisches Wort über seine Konkurrenten auf der Linken – Hamon – oder der gemäßigten Rechten – Fillon. Schließlich will er spätestens im zweiten Wahlgang ihre verbliebenen Wähler hinter sich vereinen. Bei der Bekanntgabe seiner Kandidatur im November sagte er: "Meine Aufgabe ist es nicht, die Linke zusammen zu bringen oder die Rechte zusammen zu bringen, sondern Frankreich zusammen zu bringen." Macron will der Erbe der alten Parteien sein, Le Pen präsentiert sich als Gegnerin aller Etablierten, als diejenige, die „im Namen des Volkes“ spricht.
Während Macron zweideutig die „Lust zum Überschreiten unserer Grenzen“ beschwört, bietet sich Le Pen als Beschützerin derjenigen an, die die Globalisierung als Bedrohung und den Nationalstaat als sicheren Hafen sehen. Während Macron sich „total“ zur EU bekennt und von der „Versuchung der Abschottung“ spricht, der man nicht nachgeben dürfe („In meinem Programm wird es keine Mauern geben“), macht Le Pen klar: Frankreich soll die Gewalt über seine Landesgrenzen ausüben, der Nationalstaat ist allein legitimiert, politische Entscheidungen zu treffen - und nicht die EU oder gar internationale Organisationen.
Vermutlich wird Le Pen nicht Präsidentin. Glaubt man den Umfragen, wird sie zwar im ersten Wahlgang in Führung liegen, aber dann im zweiten Wahlgang Macron unterliegen. Er wird wohl die Mehrheit der Anhänger der anderen Parteien an sich ziehen können. Aber der enorme Auftrieb, den Le Pen durch den Wahlkampf schon jetzt gewonnen hat, und der Niedergang der alten Parteien könnte dazu führen, dass ihre Partei bei den Parlamentswahlen nur einen Monat später schafft, was ihr bislang auf Grund des Mehrheitswahlrechts nicht gelingen konnte: Zahlreiche Wahlkreise und damit Abgeordnetensitze zu erobern und zur stärksten und einzigen eindeutigen Oppositionskraft zu werden. Macron dagegen steht im Falle seines Sieges vor der Aufgabe, eine neue Regierungspartei aus dem Boden zu stampfen. Bourlanges hält das für eine "fast unmögliche Mission". Bis jetzt hat „En Marche!“ noch nicht einmal ein Parteiprogramm.